Schwabmünchner Allgemeine

„Eltern müssen die Liebe zum Lernen wecken“

John Hattie ist einer der bekanntest­en Pädagogen der Welt, der Augsburger Professor Klaus Zierer sein wichtigste­r deutscher Partner. Sie wissen, wie Kinder erfolgreic­h lernen, wie eine Lehrkraft denken muss – und welche Aufgaben Eltern und Großeltern erfü

- Interview: Sarah Ritschel

Mr. Hattie, Sie haben Daten von mehr als 230 Millionen Schülerinn­en und Schülern zu einer großen Studie zusammenge­fasst. Herr Zierer, Sie übersetzen Mr. Hatties Erkenntnis­se ins Deutsche. Wie kann man einen solch unvorstell­baren Berg an Daten auswerten?

John Hattie: Die Daten stammen aus mehr als 2400 sogenannte­n Meta-Analysen und über 100.000 Einzelstud­ien. Sie zu sammeln und zu analysiere­n, ist der einfache Teil daran. Der harte ist, die Bedeutung herauszule­sen, zu ermitteln, was dazu führt, dass Schülerinn­en und Schüler unter oder über dem Leistungsd­urchschnit­t liegen. Schwierig ist auch, daraus große Leitmotive zu entwickeln und Verständni­s in der Öffentlich­keit zu generieren. Für mein erstes Buch im Jahr 2008 hat mich das 25 Jahre gekostet, für das Nachfolgew­erk noch einmal 15 Jahre.

Sie wurden vom Magazin „Stern“einmal als „Harry Potter der Pädagogen“bezeichnet. Es hieß, Sie hätten in Sachen Bildung den Stein der Weisen gefunden. Können Sie dieser Bezeichnun­g etwas abgewinnen – oder favorisier­en Sie als Neuseeländ­er „Der Herr der Ringe“?

Hattie: Ich wäre aus pädagogisc­her Sicht gern entweder Ginny Weasley aus Hogwarts oder Aragorn aus „Der Herr der Ringe“– beide sind bemerkensw­erte Lerner, überwinden Widrigkeit­en, mögen es, Schwierigk­eiten zu meistern, und sind auch einfach nette Menschen. Am liebsten wäre ich aber der „Boss“, Bruce Springstee­n.

Ähnlich viele Fans scheinen Sie zu haben. Bei Ihrem Vortrag jüngst in Augsburg, organisier­t von Universitä­t und katholisch­em Schulwerk, hat ein Zuschauer den Auftritt als „Weltereign­is“bezeichnet. Das zentrale Ergebnis Ihrer Studien wird meist mit dem Satz zusammenge­fasst: „Auf die Lehrkraft kommt es an.“Trifft die Zusammenfa­ssung so zu?

Hattie: Ja, die Lehrkraft ist der wichtigste Einfluss innerhalb der Schule. Aber wir müssen das konkretisi­eren. Das gilt nur, wenn die Lehrkräfte die Wirkung ihres Unterricht­s ständig bewerten und hinterfrag­en, wenn sie hohe Erwartunge­n haben und das Lernen aus Perspektiv­e der Schülerinn­en und Schüler sehen.

Wird die Aussage auch noch Mitte des

Jahrhunder­ts gelten, trotz künstliche­r Intelligen­z, die auch in der Schule immer mehr Einfluss gewinnt?

Hattie: Die Aussage wird mit den Fortschrit­ten der KI sogar noch wichtiger, da den Schülern und Schülerinn­en beigebrach­t werden muss, beweiskräf­tige Fragen zu stellen, Richtig und Falsch zu bewerten und kritisch mit den Produkten künstliche­r Intelligen­z umzugehen.

In den vergangene­n Jahren haben Sie sich verstärkt der Frage gewidmet, wie das Denken von Lehrperson­en Einfluss auf das Lernen von Schülerinn­en und Schülern hat. Wie denkt eine gute Lehrkraft?

Hattie: Es kommt sogar mehr darauf an, wie Lehrkräfte denken, als darauf, was sie tun. Zwei Lehrer könnten die gleiche Unterricht­sstunde halten, aber der Erfolg hängt davon ab, ob der Lehrer seine Aufgabe darin sieht, Wirkung bei allen Schülern hervorzuru­fen, oder ob er es als seine Aufgabe betrachtet, einfach nur sicherzust­ellen, dass alle Schüler die Arbeit erledigen und sich an die Anweisunge­n halten. Die großartige­n Lehrkräfte tun Ersteres, die nicht so großartige­n Letzteres.

Und was können Eltern und Großeltern zum Bildungser­folg der Kinder in ihrer Familie beitragen?

Hattie: Eltern und Großeltern spielen eine entscheide­nde Rolle. Sie sind nicht in erster Linie dazu da, die Arbeit der Schule zu übernehmen. Aber ihre Erwartunge­n spiegeln sich in den Kindern wider. Trauen sie dem Kind etwas zu, wirkt das ansteckend. Niedrige Erwartunge­n wirken wie ein Killerviru­s auf die Leistungen von Schülerinn­en und Schülern. Die Aufgabe von Eltern und Großeltern besteht darin, die Liebe zum Lernen zu wecken. Zu zeigen, dass es ein Geschenk sein kann, auch mal zu wanken, dass Fehler und Irrtümer Chancen sein können. Und Kinder brauchen eine hohe Dosis unterstütz­ende Feedbacks. Deshalb habe ich mein Buch über Elternscha­ft zusammen mit meinem Sohn geschriebe­n.

Herr Zierer, Sie haben John Hatties Ergebnisse nach Deutschlan­d gebracht. Was kann man, ausgehend von diesen Studien, am bayerische­n Schulsyste­m verbessern?

Klaus Zierer: Die Debatte, die infolge des schlechten Abschneide­ns bei Pisa in diesem Jahr stattgefun­den hatte, ist über weite Teile ein schönes Beispiel dafür, was man aus den Hattie-Studien nicht ziehen kann: Hier eine Stunde mehr, da eine Stunde weniger, dann wird das schon. Hatties Kernbotsch­aft ist ganz anders und auch für das bayerische Schulsyste­m wichtig: Entscheide­nd ist die Unterricht­squalität! Diejenigen Maßnahmen sind zu ergreifen, die helfen, dass Unterricht herausford­ernder, motivieren­der, nachhaltig­er wird. Dabei kommt man nicht umhin, über die Lehrerbild­ung zu sprechen, die John als notleidend­ste Institutio­n weltweit sieht.

Vor fünf Jahren erregte ein Aschaffenb­urger Schulleite­r Aufmerksam­keit, der sein Gymnasium orientiert an Hattie leitete. Bildungsex­perten beschriebe­n die Schule als „konservati­ves Gymnasium, das auf Förderung und bewährte Unterricht­smethoden setzt“. Würden Sie als Hattie-Experte das so unterschre­iben?

Zierer: Was sicherlich in der Wahrnehmun­g korrekt ist: Die empirische Bildungsfo­rschung bestätigt immer wieder, dass bewährte Unterricht­smethoden eine hohe Wirksamkei­t haben – kein Wunder eigentlich, sonst hätten sie sich ja auch nicht bewährt. Allerdings zeigt diese Debatte einen Denkfehler im Diskurs. Wir schauen gerade in Deutschlan­d viel zu sehr darauf: Was ist alt, was ist neu, was ist bewährt, was ist modern, was ist konservati­v, was ist progressiv und dergleiche­n. Doch diese Begriffe legen den Fokus nicht auf die entscheide­nde Frage: Ist der Unterricht gut und hat er eine hohe Wirksamkei­t? Wenn eine Schule belegen kann, dass alle Schüler aufgrund des Unterricht­s nicht nur gute Leistungen erzielen, sondern auch nachweisli­ch alle Schüler deutlich an Leistung zugelegt haben, spricht das für den Schulentwi­cklungspro­zess.

Zuletzt gab es Diskussion­en, ob eine allzu heterogene Schülersch­aft in einer Klasse – etwa durch Migration und Inklusion –

dazu führt, dass sich die Leistungen aller verschlech­tern. Ist das so, Herr Hattie?

Hattie: Heterogeni­tät ist die Norm in unserem Leben – in der Schule, am Arbeitspla­tz und in der Gesellscha­ft. Daher sollten Schulen dies widerspieg­eln, um den Schülern die Fähigkeite­n zu vermitteln, andere zu respektier­en und mit ihnen zusammenzu­arbeiten. Meine Forschung beweist, dass Gruppierun­g und Segregatio­n keinem Schüler zugutekomm­t. Ich bin übrigens auch erstaunt darüber, dass das deutsche System zu wissen glaubt, was ein elf- oder zwölfjähri­ger Schüler im Alter von 30 Jahren können wird, und ihn entspreche­nd einer Schulart zuteilt. Und ich bin bestürzt darüber, wie unglaublic­h viel Erfolg verloren geht, indem man Kindern einen solchen Stempel verpasst.

Im Freistaat gab es gerade Übertritts­zeugnisse. Der Notenschni­tt entscheide­t, wer es auf Mittelschu­le, Realschule oder Gymnasium schafft. Zeitpunkt und Aufbau des Zeugnisses sind umstritten. Wie bewerten Sie das aus pädagogisc­her Sicht?

Zierer: Der Übertritt wird leidenscha­ftlich diskutiert – und zu Recht: Der Weg dorthin ist mit Proben zugepflast­ert, die für viele zu massiven Stolperste­inen nicht nur in der Schule, sondern auch in der Persönlich­keitsentfa­ltung werden. Danach führt der Weg bei Schulwechs­eln meist von oben nach unten. Damit ist auch die Herausford­erung des Übertritts angesproch­en: Wie können wir diesen so gestalten, dass er Kinder nicht entmutigt, demotivier­t und stigmatisi­ert, sondern ermutigt, motiviert und wertschätz­t? Natürlich kann man über den Zeitpunkt sprechen, aber vor allem wird über die Qualität zu sprechen sein – und da gibt es viel zu tun.

Kommt die Aufteilung der Schülerinn­en und Schüler nach der 4. Klasse zu früh?

Zierer: Ich war selbst mehrere Jahre Grundschul­lehrer und hatte in der 4. Klasse das Gefühl, dass es immer schwierige­r wird, allen gerecht zu werden. Das belegen Studien: Die Streuung bei den Lernleistu­ngen geht extrem auseinande­r – mit zunehmende­m Alter immer stärker. Auch wenn keiner weiß, was ein Mensch im Leben noch alles erreichen können wird, im Hier und Jetzt gibt es Hinweise auf Stärken und Entwicklun­gsbereiche. Somit bleiben nur zwei Wege: Entweder man lernt länger gemeinsam und sorgt für wirksame Differenzi­erung, also eine individuel­le Förderung, was vor allem leistungss­chwächeren Schülern zugutekomm­t. Oder man gliedert das Schulsyste­m und sorgt für wertschätz­ende Übergänge, wovon vor allem leistungss­tärkere Schüler profitiere­n. Aus empirische­r Sicht ist es daher eine Patt-Situation und deswegen erneut: Die Qualität im System ist wichtiger.

„Es kommt mehr darauf an, wie Lehrkräfte denken, als darauf, was sie tun.“

Mr. Hattie, im Jahr 2011 ernannte Sie Queen Elizabeth II. zum Mitglied des Ehrenorden­s „New Zealand Order of Merit“. 2016 bekamen Sie das Ehrendokto­rat der Universitä­t Augsburg. Welche Auszeichnu­ng bedeutet Ihnen mehr?

John Hattie

Hattie: Wenn die Menschen, die Sie erreichen wollen, Ihren Einfluss erkennen, ist das wunderbar, daher bedeuten mir beide Auszeichnu­ngen sehr viel. Die Ehrendokto­rwürde von Augsburg ist eine selten verliehene Auszeichnu­ng – das wertet sie zusätzlich auf.

 ?? Foto: Schulwerk Augsburg ?? John Hattie – hier im April bei einem Auftritt in Augsburg – hat eine einfache Botschaft: „Lehrkräfte sollten das Lernen aus Perspektiv­e der Schüler sehen.“
Foto: Schulwerk Augsburg John Hattie – hier im April bei einem Auftritt in Augsburg – hat eine einfache Botschaft: „Lehrkräfte sollten das Lernen aus Perspektiv­e der Schüler sehen.“
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Foto: Universitä­t Augsburg Klaus Zierer brachte John Hatties Lehren nach Deutschlan­d.

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