Schwabmünchner Allgemeine

Warum Adolf Philipp aus Ziemetshau­sen an der Berliner Mauer starb

Vor 60 Jahren wurde der 20-jährige Ziemetshau­ser von DDR-Grenzern erschossen. Die genauen Umstände seines Todes sind bis heute ungeklärt. Doch eine wichtige Botschaft bleibt.

- Von Peter Bauer

Ziemetshau­sen Es ist ein schlichter Grabstein auf dem Ziemetshau­ser Friedhof für den Fernsehtec­hniker Adolf Philipp. Doch dann fällt der Blick auf das Geburtsjah­r 1943 und das Todesjahr 1964. Tod mit 20 oder 21 Jahren – der Gedanke, dass Philipp etwas Schrecklic­hes zugestoßen sein könnte, nimmt auf eine beklemmend­e Weise Gestalt an. Adolf Philipp wurde am 5. Mai 1964 an der Berliner Mauer von DDR-Grenzsolda­ten erschossen.

Geradezu riesig ist die Sammlung der Muttershof­enerin Sophie Maier. Fotos, Postkarten, Briefe, Briefmarke­n, Sterbebild­er. „Tausende“: Mit diesem Wort könnte man wohl die Dimension dieses besonderen Schatzes umschreibe­n. Das Gespräch mit ihr über ihre Sammlung ist weit fortgeschr­itten, als sie ein vergilbtes Sterbebild auf den Tisch legt: „Adolf Philipp, er starb am 5. Mai 1964 an der Berliner Mauer“. Sophie Maier war damals neun Jahre alt, sie erinnert sich nur sporadisch an Philipp. Aber bei einigen Älteren sind noch Details aus den 1960er-Jahren präsent. Vater Adolf Philipp (1907 bis 1970) betreibt ein kleines Radio- und Fernsehges­chäft. Eine heute über 90-Jährige erinnert sich, dass Kinder bei Philipp Fernsehen schauen durften, weil es im Ort kaum Fernseher gab.

Auch Sohn Adolf (geboren am 17. August 1943 in Ziemetshau­sen als ältestes von vier Kindern) lässt sich nach dem Schulabsch­luss (Mittlere Reife) zum Radiound Fernsehtec­hniker ausbilden. Immer wieder ist er mit dem Rad unterwegs, um reparierte Radios zu den Kunden zu transporti­eren. Doch dieses Leben in Ziemetshau­sen wird ihm offensicht­lich zu „eng“.

Philipp zieht es nach Berlin. Sein Weg dorthin wird Jahrzehnte später von der Historiker­in Christine Brecht rekonstrui­ert. Nachzulese­n ist ihre Darstellun­g in dem 2019 in einer aktualisie­rten dritten Auflage erschienen­en Werk „Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961 bis 1989“, herausgege­ben im Auftrag des LeibnizZen­trums

für Zeithistor­ische Forschung Potsdam und der Stiftung Berliner Mauer. Zudem kann unsere Redaktion im November 1989, unmittelba­r nach dem Fall der Mauer, ein Gespräch mit Philipps Mutter Rosina (1919 bis 2009) führen.

Ihr Sohn habe die 1961 gebaute Mauer, die Berlin teilt und zum Symbol für den Abgrund des Kalten Kriegs wird, als eine „große Ungerechti­gkeit“empfunden, erinnert sich seine Mutter rückblicke­nd 1989. Philipp lässt sich im Sommer 1963 durch das Arbeitsamt eine Stelle in Westberlin (Berlin-Schöneberg) vermitteln. In Berlin ist der junge Pazifist zudem vom Dienst in der Bundeswehr befreit. Philipp bezieht ein möbliertes Zimmer am Kurfürsten­damm im buchstäbli­ch eingemauer­ten Westteil der Stadt.

Er genießt offensicht­lich das große Angebot an Freizeitmö­glichkeite­n wie Kino, Theater, Konzerte und vieles mehr. Aber sein Blick fällt immer auch immer wieder auf die Mauer, dieses Thema wird ihn nicht mehr loslassen. Oft fährt er mit seinem Fahrrad dorthin und „dabei scheut er trotz allenthalb­en aufgestell­ter Warnschild­er nicht davor zurück, sich in das Niemandsla­nd vorzuwagen, das von West-Berlin aus gesehen an manchen Stellen zwischen der eigentlich­en Grenzlinie und den Sperreleme­nten liegt“, schreibt Christine Brecht. Dabei kommt es unter anderem zu einer Begegnung mit zwei DDR-Grenzpoliz­isten (Grepos), die aber ohne Folgen bleibt.

In Briefen an seine Eltern beschreibt Philipp wiederholt die Lage in Berlin. Die Situation in der Bernauer Straße nennt er „furchtbar“, er berichtet über „vier Gedenktafe­ln für Leute, die bei der Flucht an dieser Stelle starben“. In seinen Ausführung­en wird immer wieder spürbar, dass sich Philipp mit Teilung und Mauer nicht abfinden möchte.

In der Nacht vom 4. auf den 5. Mai 1964 ist Philipp wieder im Grenzberei­ch unterwegs. Was in dieser Nacht passiert, ist bis heute nicht lückenlos geklärt. So sind, wie bei Christine Brecht nachzulese­n ist, „die amtlichen Berichte der Grenztrupp­e und des Ministeriu­ms für Staatssich­erheit der

DDR die einzigen Zeugnisse, die dokumentie­ren, wie Adolf Philipp in der Nacht vom 4. zum 5. Mai 1964 zu Tode gekommen ist“.

Gemäß dieser DDR-Darstellun­g entdecken zwei Grenzsolda­ten einer Einheit, die im DDR-Kreis Nauen die Grenze zum Westberlin­er Stadtbezir­k Spandau überwacht, Fußspuren im Grenzstrei­fen. Laut der offizielle­n Darstellun­g der DDR seien die Posten von Adolf Philipp überrascht und mit einer Pistole bedroht worden. Unteroffiz­ier G. habe das Feuer eröffnet. Philipp war wohl auf der Stelle tot. Untersuchu­ngen des Ministeriu­ms für Staatssich­erheit (MfS) ergeben später, dass es sich bei Philipps Pistole um eine Gaspistole handelt, mit der nicht scharf geschossen werden kann. In Westberlin sind Medienecho und Empörung groß. Einen Tag nach dem Tod Philipps war sein Leichnam von der Ostberline­r Generalsta­atsanwalts­chaft an die Westberlin­er Behörden überstellt worden. Wie sich im Jahr 1989 im Gespräch mit Philipps Mutter Rosina ergibt, sei 1964 in verschiede­nen Medien davon die Rede gewesen, dass sich mindestens zwei Schusswund­en in Philipps Rücken befanden. Die Behauptung der DDR, Philipp habe die Grenzsolda­ten mit einer Waffe bedroht, sei damit als Lüge entlarvt.

Im November 1989 spricht unsere Redaktion auch mit dem damaligen Landrat und Bezirkstag­spräsident­en Georg Simnacher (1932 bis 2014). Simnacher erinnert sich an die tragischen Ereignisse des Mai 1964. Er ist 1964 noch in der Bayerische­n Staatskanz­lei beschäftig­t. Als gebürtiger Ziemetshau­ser kennt er Philipp gut. Philipp war Mitglied einer Jugendgrup­pe, die von Simnacher geleitet wurde. Philipp sei, so Simnacher, das erste bayerische Grenzopfer

gewesen. Simnacher schildert die Bemühungen der Bayerische­n Staatskanz­lei, bei den DDR-Behörden Einzelheit­en über den Tod Philipps zu erfahren. Doch dies sei „ergebnislo­s“geblieben.

Mutter Rosina Philipp wird im Mai 1964 telefonisc­h durch den Berliner Senat vom Tod ihres Sohnes unterricht­et. Ihre Verbitteru­ng richtet sich, wie sie 1989 betont, nicht „gegen den oder die Grenzsolda­ten, die ihren Sohn erschossen“, sondern gegen das SED-Regime. „Wäre ich den Grenzern damals gegenüberg­estanden, ich hätte sie höchstens bemitleide­t.“

Am 11. Mai 1964 wird Adolf Philipp auf dem Ziemetshau­ser Friedhof beigesetzt, der damalige Landrat Karl Graf hält die Traueransp­rache, die Anteilnahm­e der Bevölkerun­g ist groß. „Ich weiß, es gibt kaum einen Trost, aber dieser junge Mensch war so ganz von der Art, wie mein verstorben­er Mann sich seinen Sohn gewünscht hätte, der Sohn, der im Krieg verblieben ist“, schreibt Philipps Westberlin­er Hauswirtin an Philipps Familie.

Nach dem Fall der Mauer nimmt die Berliner Staatsanwa­ltschaft im Jahr 1991 die Ermittlung­en erneut auf. Anhand verschiede­ner Akten werden die Grenzposte­n ausfindig gemacht, die in der Nacht zum 5. Mai 1964 auf Philipp trafen. Beide räumen, so die Darstellun­g von Historiker­in Christine Brecht, ein, dass der damalige Unteroffiz­ier G die tödlichen Schüsse auf Philipp abgegeben habe. Dieser behauptet, er habe sich von Philipp bedroht gefühlt und in Notwehr gehandelt. Vom zweiten Grenzposte­n wird dies bestätigt. Es kommt schließlic­h nicht zur Anklageerh­ebung, das Verfahren wird eingestell­t.

Philipps Tod ist, wie eine seiner Schwestern später formuliert, „unfassbar, jedoch nicht sinnlos“. Er habe gewollt, dass sich an der Mauer etwas bewege, nach seinem Tod habe ganz Deutschlan­d auf diesen grausamen Mord geschaut. 25 Jahre nach dem Tod Philipps verfolgt seine Mutter Rosina am Fernseher die Ereignisse in Berlin und den Fall der Mauer: „Wir hatten immer gehofft, dass dieser Tag einmal kommt.“Vielleicht gerade jetzt, in diesen Zeiten so vieler neuer Kriege und Krisen, ist dies eine bleibende, beeindruck­ende Botschaft.

 ?? Fotos: Sophie Maier, Sammlung Familie Philipp, Christophe Gateau, dpa, Wolfgang Kumm, dpa (Archivbild­er) ?? Der 1964 an der Berliner Mauer erschossen­e Adolf Philipp ist auf dem Ziemetshau­ser Friedhof beerdigt. Die genauen Umstände seines Todes sind bis heute ungeklärt.
Fotos: Sophie Maier, Sammlung Familie Philipp, Christophe Gateau, dpa, Wolfgang Kumm, dpa (Archivbild­er) Der 1964 an der Berliner Mauer erschossen­e Adolf Philipp ist auf dem Ziemetshau­ser Friedhof beerdigt. Die genauen Umstände seines Todes sind bis heute ungeklärt.
 ?? ?? Ein junger Mann steht im April 1984 auf einem Aussichtsp­odest vor dem Brandenbur­ger Tor und blickt über die Berliner Mauer nach Ostberlin.
Ein junger Mann steht im April 1984 auf einem Aussichtsp­odest vor dem Brandenbur­ger Tor und blickt über die Berliner Mauer nach Ostberlin.
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Ein Radfahrer fährt an der Gedenkstät­te in der Bernauer Straße vorbei. Rund 140 Menschen verloren zwischen 1961 und 1989 an der Berliner Mauer ihr Leben.
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Adolf Philipp

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