Schwaebische Zeitung (Alb-Donau)
Trauer um Hans-Dietrich Genscher
Langjähriger Außenminister mit 89 Jahren gestorben – Würdigung über Parteigrenzen hinweg
(AFP) - Abschied von einer der prägendsten politischen Persönlichkeiten der Bundesrepublik und einemArchitekten der Deutschen Einheit: Hans-Dietrich Genscher, langjähriger Bundesaußenminister und FDP-Chef, ist mit 89 Jahren gestorben. Die Reaktionen auf die Nachricht waren parteiübergreifend von Hochachtung geprägt. Genscher starb in seinem Haus in WachtbergPech. Als Todesursache wurde HerzKreislauf-Versagen angegeben.
Zahlreiche Politiker zollten dem Verstorbenen Respekt. „Ich verneige mich in Hochachtung vor der Lebensleistung dieses großen liberalen Patrioten und Europäers“, erklärte Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Sie erinnerte an Genschers Auftritt in der Deutschen Botschaft in Prag 1989, als er den dorthin aus der DDR Geflüchteten die Ausreiseerlaubnis mitteilte. Bundespräsident Joachim Gauck nannte Genscher eine „herausragende Persönlichkeit“. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) würdigte Genscher als „großen Deutschen und großen Europäer“.
Genscher war von 1969 bis 1974 Bundesinnenminister und von 1974 bis 1992 Außenminister und Vizekanzler. In seine Regierungszeit fiel unter anderem die Deutsche Einheit 1990. Von 1974 bis 1985 war er Vorsitzender der FDP, seit 1992 Ehrenvorsitzender. „Seiner Partei war er ein väterlicher Freund, der uns bis zuletzt mit Rat und Tat zur Seite stand“, erklärte FDP-Chef Christian Lindner.
Der frühere FDP-Chef und Ex-Außenminister Klaus Kinkel (FDP) reagierte bestürzt. „Ich habe viel von ihm gelernt, ich war sein politischer Ziehsohn“, sagte Kinkel der „Schwäbischen Zeitung“. „Die Wiedervereinigung war sein Meisterwerk. Auf die hat er hingearbeitet, und die hat er so ersehnt als früherer DDR-Bürger.“
Ex-Entwicklungsminister Dirk Niebel stellte eine Verbindung zum Tod des FDP-Politikers Guido Westerwelle Mitte März her. „Der Verlust von zwei Bundesvorsitzenden innerhalb eines Monats, die dieser Partei zu wahrhafter Größe verholfen haben, ist nicht nur menschlich tragisch, sondern auch politisch bitter“, sagte Niebel. Ernst Burgbacher, früherer FDP-Staatssekretär aus Trossingen, sagte, Genscher habe die Freiheit in den Mittelpunkt seiner Arbeit gestellt. Auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried KretschSmann (Grüne) würdigte Genschers Lebenswerk. „Er war einer der ganz großen Liberalen der FDP und ein überzeugter Europäer“, sagte Kretschmann.
- Genscherismus – nach welchem Politiker wurde schon ein ganzer Politikstil getauft? Genscherismus, das war die Beschreibung des verbindlich Ungefähren, für die Hans-Dietrich Genscher stand. Der britische Historiker Timothy Garton Ash übersetzte Genscherismus einmal mit: „Man möchte freundschaftliche Beziehungen mit dem Himmel, vertiefte Partnerschaft mit der Erde, aber auch fruchtbare Zusammenarbeit mit der Hölle.“Das alles wollte Genscher. Mehr noch, er erreichte es auch.
Der jahrelange Außenminister Deutschlands verstand die Kunst, zwischen den Welten zu vermitteln, Optionen offenzuhalten und mit einer gewissen Schlitzohrigkeit Festlegungen zu vermeiden. Er beherrschte die hohe Schule der Diplomatie. Diese Fähigkeit kam seinem Vaterland zugute, als er in der historisch kurzen Spanne der Wiedervereinigung entschlossen verhandelte.
Hans-Dietrich Genscher war 1952 aus der DDR in die Bundesrepublik gekommen. Nach Abschluss eines Jurastudiums ging er 1956 nach Bonn, wo er in der FDP Karriere machte und 1974 Parteichef wurde. Bereits 1965 zog er in den Bundestag ein, Genscher bezeichnete sich selbst lange vor der Deutschen Einheit gerne als Mitteldeutschen, eine bedeutungsvolle Formulierung. Seine Landsleute im Osten dankten es ihm später. Mit enorm guten Ergebnissen für die FDP, aber auch immer wieder mit Ehrungen in seiner Heimatstadt Halle. Sein Geburtshaus in HalleReideburg ist seit 2013 „Begegnungsstätte Deutsche Einheit“.
„Genschman“
Hans-Dietrich Genscher war schon früh zu seinem eigenen Markenzeichen geworden. Als in jedem Sinne gewichtiger Politiker wurde er gerne als Elefant karikiert. Auch an seinen großen Ohren erfreuten sich Generationen von Karikaturisten. Selten erschien er ohne seinen berühmten gelben Pullunder. In späteren Jahren wurde er zu einer Art Supermann gemacht, „Genschman“hieß es da einfach. Genscher genoss jede Form der Öffentlichkeit, wahrte dabei jedoch immer eine gewisse Distanz. Seine privaten Gefühle gab er nie preis, seine dienstlichen schon. Schon lange bevor Deutschland und die Welt ihn als Meisterdiplomaten kennenlernten, führte seine Art zum Etikett des „Genscherismus“. 1972 hieß es in dem Bericht einer Arbeitsgruppe für psychologische Marktanalysen, den die FDP in Auftrag gegeben hatte, dass manche Wähler in seiner „Flexibilität, seiner Offenheit nach allen Seiten, kurz seinem Genscherismus ein Grundübel der FDP“sehen. Da war Genscher noch FDP-Vize und Innenminister in der sozialliberalen Regierung Willy Brandts.
1974 wurde Genscher FDP-Chef (bis 1985) und Außenminister in der Regierung Helmut Schmidts. Er zählte an der Seite des SPD-Kanzlers zu den Befürwortern des Nato-Doppelbeschlusses, mit dem sich viele Mitglieder und Anhänger der SPD schwertaten. Das war einer der Gründe, warum Genscher ab 1981 die Ablösung von der SPD betrieb. Nach Differenzen in der Wirtschafts- und Steuerpolitik und einem Scheidepapier des FDP-Wirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff beendete Gen- scher 1982 die Koalition mit den Sozialdemokraten und verhalf Helmut Kohl an die Macht. Nach der von der FDP bewerkstelligten sogenannten „Wende“büßten die Liberalen Stimmen ein, stabilisierten sich aber wieder.
Ein Leben wie im Flug
Den Höhepunkt seiner Karriere erreichte Genscher in der Zeit der deutschen Wiedervereinigung. Der Mann, der allabendlich in der Tagesschau mit Interviews auftauchte, jettete quer durch die Welt, er gehörte zu den umtriebigsten Politikern, die Deutschland je hatte. Sein bekanntester Auftritt, der für immer in den Geschichtsbüchern stehen wird, ist jener am 30. September 1989. Als er nach Verhandlungen mit Vertretern Ost-Berlins und Prags auf den Balkon der deutschen Botschaft in Prag trat, um zu verkünden, dass alle DDR-Flüchtlinge, die sich in den deutschen Botschaften in Prag und Warschau befinden, ausreisen dürfen. Der Jubel war unbeschreiblich. Es war der nach seinem eigenen Bekunden bewegendste Moment sei- nes politischen Lebens. Mit Bildern, die ihn auch später noch zu Tränen rührten.
Im Jahr 1990 sagte Hans-Dietrich Genscher einmal: „Es ist etwas Wunderschönes, in der Politik recht zu kriegen und das noch im Amt zu erleben.“Er durfte es nicht nur im Amt, sondern noch viele Jahre länger genießen, dass er erfolgreich den Zweiplus-Vier-Vertrag aushandelte, jenen Grundlagen-Vertrag zwischen den beiden Deutschlands und den vier Siegermächten, der die deutsche Wiedervereinigung ermöglichte. Für den gebürtigen Hallenser Hans-Dietrich Genscher ging damit ein Traum in Erfüllung. Als „Goldschmied der Wiedervereinigung“bezeichnete ihn die französische Zeitung „Le Quotidien“einmal.
An der Seite Kohls
In den entscheidenden Jahren der Deutschen Einheit war Genscher eng mit CDU-Kanzler Helmut Kohl verbunden. Auch wenn dieser sich manchmal über ihn ärgerte – und Genscher über ihn, auch wenn es oft hieß, Helmut Kohl habe keine wah- ren Freunde – Hans-Dietrich Genscher zählte sich zu ihnen. Als er 1992, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, auf eigenen Wunsch aus der Regierung austrat, war er der dienstälteste Außenminister Europas. Er hatte damals schon zwei Herzinfarkte überstanden, wollte aber die Zweiplus-Vier-Verhandlungen noch unter Dach und Fach wissen. Dem Bundestag gehörte Genscher dann noch bis 1998 an.
Genscher lebte Politik. Als Helmut Kohl noch Gorbatschow schmähte, setzte Genscher schon alle Hoffnungen auf ihn. „Genscherismus“warfen ihm die USA vor, als er 1987 dazu aufrief, Michail Gorbatschow ernst zu nehmen. Genscher blieb dieser Linie treu. Bei einem seiner letzten großen öffentlichen Auftritte warb Genscher Ende 2014 in Berlin für mehr Empathie für Russland und forderte, mehr als Europäer denn als Deutsche zu denken. Als Deutschland 2015 das 25. Jubiläum des Zwei-plus-Vier-Vertrages feierte, kam Hans-Dietrich Genscher im Rollstuhl in die FDP-Parteizentrale nach Berlin. „Macht endlich Schluss mit den Atomwaffen“, forderte er da. „Noch ist Zeit, aber nicht mehr lange.“
Ehrungen in Hülle und Fülle
Genscher war in zweiter Ehe mit seiner Frau Barbara, seiner früheren Sekretärin, seit 1969 verheiratet. Aus seiner ersten Ehe stammt seine Tochter Martina. Hans-Dietrich Genscher war es vergönnt, daheim in seinem Haus bei Bonn zu sterben, seine Familie an seiner Seite. Nur zwei Wochen vor seinem Tod musste er noch die Nachricht vom Tod seines einstigen Ziehsohnes Guido Westerwelle verkraften. Da war er selbst schon bettlägrig.
Ehrungen hat er in seinem Leben in Hülle und Fülle erhalten. Der Mann, der Deutschland in seinem ruhelosen, aktiven Leben so entscheidend mitgeprägt hat wie kaum ein anderer Politiker, findet jetzt seine letzte Ruhe.