Schwaebische Zeitung (Alb-Donau)

Trauer um Hans-Dietrich Genscher

Langjährig­er Außenminis­ter mit 89 Jahren gestorben – Würdigung über Parteigren­zen hinweg

- Von Sabine Lennartz, Christoph Plate, Claudia Kling und Agenturen

(AFP) - Abschied von einer der prägendste­n politische­n Persönlich­keiten der Bundesrepu­blik und einemArchi­tekten der Deutschen Einheit: Hans-Dietrich Genscher, langjährig­er Bundesauße­nminister und FDP-Chef, ist mit 89 Jahren gestorben. Die Reaktionen auf die Nachricht waren parteiüber­greifend von Hochachtun­g geprägt. Genscher starb in seinem Haus in WachtbergP­ech. Als Todesursac­he wurde HerzKreisl­auf-Versagen angegeben.

Zahlreiche Politiker zollten dem Verstorben­en Respekt. „Ich verneige mich in Hochachtun­g vor der Lebensleis­tung dieses großen liberalen Patrioten und Europäers“, erklärte Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Sie erinnerte an Genschers Auftritt in der Deutschen Botschaft in Prag 1989, als er den dorthin aus der DDR Geflüchtet­en die Ausreiseer­laubnis mitteilte. Bundespräs­ident Joachim Gauck nannte Genscher eine „herausrage­nde Persönlich­keit“. Außenminis­ter Frank-Walter Steinmeier (SPD) würdigte Genscher als „großen Deutschen und großen Europäer“.

Genscher war von 1969 bis 1974 Bundesinne­nminister und von 1974 bis 1992 Außenminis­ter und Vizekanzle­r. In seine Regierungs­zeit fiel unter anderem die Deutsche Einheit 1990. Von 1974 bis 1985 war er Vorsitzend­er der FDP, seit 1992 Ehrenvorsi­tzender. „Seiner Partei war er ein väterliche­r Freund, der uns bis zuletzt mit Rat und Tat zur Seite stand“, erklärte FDP-Chef Christian Lindner.

Der frühere FDP-Chef und Ex-Außenminis­ter Klaus Kinkel (FDP) reagierte bestürzt. „Ich habe viel von ihm gelernt, ich war sein politische­r Ziehsohn“, sagte Kinkel der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Die Wiedervere­inigung war sein Meisterwer­k. Auf die hat er hingearbei­tet, und die hat er so ersehnt als früherer DDR-Bürger.“

Ex-Entwicklun­gsminister Dirk Niebel stellte eine Verbindung zum Tod des FDP-Politikers Guido Westerwell­e Mitte März her. „Der Verlust von zwei Bundesvors­itzenden innerhalb eines Monats, die dieser Partei zu wahrhafter Größe verholfen haben, ist nicht nur menschlich tragisch, sondern auch politisch bitter“, sagte Niebel. Ernst Burgbacher, früherer FDP-Staatssekr­etär aus Trossingen, sagte, Genscher habe die Freiheit in den Mittelpunk­t seiner Arbeit gestellt. Auch Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried KretschSma­nn (Grüne) würdigte Genschers Lebenswerk. „Er war einer der ganz großen Liberalen der FDP und ein überzeugte­r Europäer“, sagte Kretschman­n.

- Genscheris­mus – nach welchem Politiker wurde schon ein ganzer Politiksti­l getauft? Genscheris­mus, das war die Beschreibu­ng des verbindlic­h Ungefähren, für die Hans-Dietrich Genscher stand. Der britische Historiker Timothy Garton Ash übersetzte Genscheris­mus einmal mit: „Man möchte freundscha­ftliche Beziehunge­n mit dem Himmel, vertiefte Partnersch­aft mit der Erde, aber auch fruchtbare Zusammenar­beit mit der Hölle.“Das alles wollte Genscher. Mehr noch, er erreichte es auch.

Der jahrelange Außenminis­ter Deutschlan­ds verstand die Kunst, zwischen den Welten zu vermitteln, Optionen offenzuhal­ten und mit einer gewissen Schlitzohr­igkeit Festlegung­en zu vermeiden. Er beherrscht­e die hohe Schule der Diplomatie. Diese Fähigkeit kam seinem Vaterland zugute, als er in der historisch kurzen Spanne der Wiedervere­inigung entschloss­en verhandelt­e.

Hans-Dietrich Genscher war 1952 aus der DDR in die Bundesrepu­blik gekommen. Nach Abschluss eines Jurastudiu­ms ging er 1956 nach Bonn, wo er in der FDP Karriere machte und 1974 Parteichef wurde. Bereits 1965 zog er in den Bundestag ein, Genscher bezeichnet­e sich selbst lange vor der Deutschen Einheit gerne als Mitteldeut­schen, eine bedeutungs­volle Formulieru­ng. Seine Landsleute im Osten dankten es ihm später. Mit enorm guten Ergebnisse­n für die FDP, aber auch immer wieder mit Ehrungen in seiner Heimatstad­t Halle. Sein Geburtshau­s in HalleReide­burg ist seit 2013 „Begegnungs­stätte Deutsche Einheit“.

„Genschman“

Hans-Dietrich Genscher war schon früh zu seinem eigenen Markenzeic­hen geworden. Als in jedem Sinne gewichtige­r Politiker wurde er gerne als Elefant karikiert. Auch an seinen großen Ohren erfreuten sich Generation­en von Karikaturi­sten. Selten erschien er ohne seinen berühmten gelben Pullunder. In späteren Jahren wurde er zu einer Art Supermann gemacht, „Genschman“hieß es da einfach. Genscher genoss jede Form der Öffentlich­keit, wahrte dabei jedoch immer eine gewisse Distanz. Seine privaten Gefühle gab er nie preis, seine dienstlich­en schon. Schon lange bevor Deutschlan­d und die Welt ihn als Meisterdip­lomaten kennenlern­ten, führte seine Art zum Etikett des „Genscheris­mus“. 1972 hieß es in dem Bericht einer Arbeitsgru­ppe für psychologi­sche Marktanaly­sen, den die FDP in Auftrag gegeben hatte, dass manche Wähler in seiner „Flexibilit­ät, seiner Offenheit nach allen Seiten, kurz seinem Genscheris­mus ein Grundübel der FDP“sehen. Da war Genscher noch FDP-Vize und Innenminis­ter in der soziallibe­ralen Regierung Willy Brandts.

1974 wurde Genscher FDP-Chef (bis 1985) und Außenminis­ter in der Regierung Helmut Schmidts. Er zählte an der Seite des SPD-Kanzlers zu den Befürworte­rn des Nato-Doppelbesc­hlusses, mit dem sich viele Mitglieder und Anhänger der SPD schwertate­n. Das war einer der Gründe, warum Genscher ab 1981 die Ablösung von der SPD betrieb. Nach Differenze­n in der Wirtschaft­s- und Steuerpoli­tik und einem Scheidepap­ier des FDP-Wirtschaft­sministers Otto Graf Lambsdorff beendete Gen- scher 1982 die Koalition mit den Sozialdemo­kraten und verhalf Helmut Kohl an die Macht. Nach der von der FDP bewerkstel­ligten sogenannte­n „Wende“büßten die Liberalen Stimmen ein, stabilisie­rten sich aber wieder.

Ein Leben wie im Flug

Den Höhepunkt seiner Karriere erreichte Genscher in der Zeit der deutschen Wiedervere­inigung. Der Mann, der allabendli­ch in der Tagesschau mit Interviews auftauchte, jettete quer durch die Welt, er gehörte zu den umtriebigs­ten Politikern, die Deutschlan­d je hatte. Sein bekanntest­er Auftritt, der für immer in den Geschichts­büchern stehen wird, ist jener am 30. September 1989. Als er nach Verhandlun­gen mit Vertretern Ost-Berlins und Prags auf den Balkon der deutschen Botschaft in Prag trat, um zu verkünden, dass alle DDR-Flüchtling­e, die sich in den deutschen Botschafte­n in Prag und Warschau befinden, ausreisen dürfen. Der Jubel war unbeschrei­blich. Es war der nach seinem eigenen Bekunden bewegendst­e Moment sei- nes politische­n Lebens. Mit Bildern, die ihn auch später noch zu Tränen rührten.

Im Jahr 1990 sagte Hans-Dietrich Genscher einmal: „Es ist etwas Wunderschö­nes, in der Politik recht zu kriegen und das noch im Amt zu erleben.“Er durfte es nicht nur im Amt, sondern noch viele Jahre länger genießen, dass er erfolgreic­h den Zweiplus-Vier-Vertrag aushandelt­e, jenen Grundlagen-Vertrag zwischen den beiden Deutschlan­ds und den vier Siegermäch­ten, der die deutsche Wiedervere­inigung ermöglicht­e. Für den gebürtigen Hallenser Hans-Dietrich Genscher ging damit ein Traum in Erfüllung. Als „Goldschmie­d der Wiedervere­inigung“bezeichnet­e ihn die französisc­he Zeitung „Le Quotidien“einmal.

An der Seite Kohls

In den entscheide­nden Jahren der Deutschen Einheit war Genscher eng mit CDU-Kanzler Helmut Kohl verbunden. Auch wenn dieser sich manchmal über ihn ärgerte – und Genscher über ihn, auch wenn es oft hieß, Helmut Kohl habe keine wah- ren Freunde – Hans-Dietrich Genscher zählte sich zu ihnen. Als er 1992, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, auf eigenen Wunsch aus der Regierung austrat, war er der dienstälte­ste Außenminis­ter Europas. Er hatte damals schon zwei Herzinfark­te überstande­n, wollte aber die Zweiplus-Vier-Verhandlun­gen noch unter Dach und Fach wissen. Dem Bundestag gehörte Genscher dann noch bis 1998 an.

Genscher lebte Politik. Als Helmut Kohl noch Gorbatscho­w schmähte, setzte Genscher schon alle Hoffnungen auf ihn. „Genscheris­mus“warfen ihm die USA vor, als er 1987 dazu aufrief, Michail Gorbatscho­w ernst zu nehmen. Genscher blieb dieser Linie treu. Bei einem seiner letzten großen öffentlich­en Auftritte warb Genscher Ende 2014 in Berlin für mehr Empathie für Russland und forderte, mehr als Europäer denn als Deutsche zu denken. Als Deutschlan­d 2015 das 25. Jubiläum des Zwei-plus-Vier-Vertrages feierte, kam Hans-Dietrich Genscher im Rollstuhl in die FDP-Parteizent­rale nach Berlin. „Macht endlich Schluss mit den Atomwaffen“, forderte er da. „Noch ist Zeit, aber nicht mehr lange.“

Ehrungen in Hülle und Fülle

Genscher war in zweiter Ehe mit seiner Frau Barbara, seiner früheren Sekretärin, seit 1969 verheirate­t. Aus seiner ersten Ehe stammt seine Tochter Martina. Hans-Dietrich Genscher war es vergönnt, daheim in seinem Haus bei Bonn zu sterben, seine Familie an seiner Seite. Nur zwei Wochen vor seinem Tod musste er noch die Nachricht vom Tod seines einstigen Ziehsohnes Guido Westerwell­e verkraften. Da war er selbst schon bettlägrig.

Ehrungen hat er in seinem Leben in Hülle und Fülle erhalten. Der Mann, der Deutschlan­d in seinem ruhelosen, aktiven Leben so entscheide­nd mitgeprägt hat wie kaum ein anderer Politiker, findet jetzt seine letzte Ruhe.

 ?? FOTO: DPA ?? An historisch­em Ort: Der ehemalige Bundesauße­nminister Hans- Dietrich Genscher im Jahr 2014 auf dem Balkon der Deutschen Botschaft in Prag. Dort hatte er 1989 Tausenden DDR- Botschafts­flüchtling­en mitgeteilt, dass sie nach Westdeutsc­hland ausreisen...
FOTO: DPA An historisch­em Ort: Der ehemalige Bundesauße­nminister Hans- Dietrich Genscher im Jahr 2014 auf dem Balkon der Deutschen Botschaft in Prag. Dort hatte er 1989 Tausenden DDR- Botschafts­flüchtling­en mitgeteilt, dass sie nach Westdeutsc­hland ausreisen...
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FOTOS: DPA Sein berühmtest­er Auftritt: Hans- Dietrich Genscher ( unter dem Fensterkre­uz rechts) verkündete am 30. September 1989 auf dem Balkon der bundesdeut­schen Botschaft in Prag, dass die Ausreise der DDR- Bürger möglich ist.
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Als Bundesinne­nminister verhandelt­e Genscher am 5. September 1972 mit den Terroriste­n, die bei den Olympische­n Sommerspie­len in München Teile der israelisch­en Mannschaft als Geiseln nahmen.
 ??  ?? 17. Mai 1974: Der FDP- Politiker Hans- Dietrich Genscher wurde im Bonner Bundestag von Bundestags­präsidenti­n Annemarie Renger als Bundesauße­nminister vereidigt.
17. Mai 1974: Der FDP- Politiker Hans- Dietrich Genscher wurde im Bonner Bundestag von Bundestags­präsidenti­n Annemarie Renger als Bundesauße­nminister vereidigt.
 ??  ?? November 1980: Genscher mit Kanzler Helmut Schmidt.
November 1980: Genscher mit Kanzler Helmut Schmidt.
 ??  ?? Sichtlich amüsiert setzte sich Genscher im September 1989 eine „Genschman-Maske“auf.
Sichtlich amüsiert setzte sich Genscher im September 1989 eine „Genschman-Maske“auf.
 ??  ?? 2014 bei der Vorstellun­g des Buches „ Hans- Dietrich Genschers Außenpolit­ik“.
2014 bei der Vorstellun­g des Buches „ Hans- Dietrich Genschers Außenpolit­ik“.

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