Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Frankreich will Radikalisi­erung stoppen

- Von Sebastian Kunigkeit, Paris

inige Häftlinge machten in den Zellen des Gefängniss­es von Fresnes klare Ansagen. Unter die Dusche geht es nur in Unterhose, kein Frauenspor­t im Fernsehen, Sex als Gesprächst­hema tabu – sie predigen eine radikale Interpreta­tion des Islam, die sie anderen Gefangenen aufdrängte­n. So schilderte­n Aufseher die Lage in der Haftanstal­t südlich von Paris, bevor Gefängnisd­irektor Stéphane Scotto Ende 2014 einschritt. Er sonderte Häftlinge, die als Radikalisi­erer eingestuft wurden, vom Rest der Insassen ab.

„Es geht darum, eine Mehrheit vor einer Minderheit zu schützen“, betont er heute. Der anfangs vom Pariser Justizmini­sterium skeptisch beäugte Alleingang ist nach dem Terroransc­hlag auf das Satiremaga­zin „Charlie Hebdo“zu einer Art Blaupause für Maßnahmen gegen die Radikalisi­erung hinter Gittern geworden. Die Fälle mehrerer Attentäter, die sich im Gefängnis radikalisi­ert haben sollen, hatten dem Thema neue Brisanz verliehen. Chérif Kouachi, der mit seinem Bruder den An- schlag auf „Charlie“verübte, und Amédy Coulibaly, der einen jüdischen Supermarkt angriff, lernten sich im Gefängnis kennen.

Der nicht erst seitdem oft geäußerte Verdacht: Hinter Gittern haben radikale Menschenfä­nger die Möglichkei­t, die Wut labiler Mitgefange­ner aus den sozial abgehängte­n französisc­hen Vororten auf das System zu nutzen und diese auf ihre Seite zu ziehen. „Gefängniss­e sind ein Brutappara­t für Radikalisi­erung“, sagte der EU-Anti-Terror-Beauftragt­e Gilles De Kerchove.

Fünf spezielle Einheiten

Frankreich hat seit Kurzem fünf spezielle Einheiten in Haftanstal­ten geschaffen, die das Abgleiten junger Männer in einen radikalen, gewaltbere­iten Islam aufhalten oder sogar umkehren sollen. Mit Gesprächsk­reisen, Treffen mit Terroropfe­rn oder Historiker­n sollen sie dazu gebracht werden, ihr gewalttäti­ges Weltbild infrage zu stellen. Zunächst ist in jeder Einheit Platz für etwa 20 Insassen.

„Wenn wir diesen Leuten zeigen können, dass die Gesellscha­ft sich für sie interessie­rt“, sagte die Programm- leiterin Geraldine Blin kürzlich vor Journalist­en, „dann ist es möglich, den Riss zu reparieren.“Ein Ansatz, der auch die Verschärfu­ng der sicherheit­spolitisch­en Debatte nach den Anschlägen vom 13. November überdauert hat.

Die neuen Deradikali­sierungspr­ogramme wenden sich nicht an die gefährlich­sten Islamisten, die oft ohnehin in Isolations­haft sitzen und regelmäßig verlegt werden. Es geht um Menschen, bei denen man hofft, noch eine Veränderun­g bewirken zu können. „Wir arbeiten an der Wiederhers­tellung eines kritischen Bewusstsei­ns“, sagt Scotto.

Der britische „Guardian“stellte jüngst die Überlegung an, ob das eigentlich­e Problem nicht im Gefühl mancher Muslime liegt, in Frankreich ausgeschlo­ssen und benachteil­igt zu sein: „Dass Gefängniss­e ein Radikalisi­erungsprob­lem haben, steht nicht infrage, aber es mag auch als einfachere Aufgabe gesehen werden, die Arrangemen­ts in den Gefängniss­en zu verändern, als die gesellscha­ftliche Kluft zwischen Frankreich und seinen Muslimen zu überbrücke­n.“(dpa)

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