Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Real nur in seinen Träumen
Ein Leben in Rückblenden: John Irvings neuer Roman „Straße der Wunder“
angjährige Leser von John Irving schätzen Bewährtes. Das gilt zum einen für den Stil: Seine Hauptfiguren blicken meist in verschachtelten Rückblenden auf ihr Leben zurück und sinnieren über prägende, oft traumatische Erlebnisse und erlittene Verluste. Dabei sind sie selbst in der Regel wesentlich zurückhaltender und passiver als der bunte Reigen an denkwürdigen Nebenfiguren, der ihnen auf ihrem Lebensweg begegnet. Zum anderen gibt es gewisse Standardthemen, die sich durch die Romane des Amerikaners ziehen: Bären und Wrestling bleiben im neuen Roman „Straße der Wunder“zwar außen vor. Aber es geht wieder um abwesende Väter, Prostituierte, Leben und Werk von Schriftstellern, tödliche Unfälle und, wie bereits im Vorgänger „In einer Person“, auch um die Opfer der AidsEpidemie.
Dennoch greift der Vorwurf, der 74-Jährige würde sich wiederholen, klar zu kurz. Denn Irving gelingt es immer wieder, Figuren zu schaffen, die den Leser noch lange nach der Lektüre begleiten. In seinem 14. Roman ist dies vor allem Lupe, die Schwester der Hauptfigur Juan Diego. Gemeinsamen wachsen die beiden auf einer Mülldeponie außerhalb der mexikanischen Stadt Oaxaca auf. Lupe kann in die Gedanken ihrer Mitmenschen und manchmal auch in die Zukunft sehen, redet allerdings in einem Kauderwelsch, den nur ihr eigener Bruder entschlüsseln kann. Zudem hat sie sehr klare Ansichten zur Gottesmutter Maria und zur Jungfrau von Guadalupe. Letzteres ist nicht allzu verwunderlich, schließlich putzt die Mutter der Beiden tagsüber in einem Jesuitenkloster. Nachts arbeitet sie dagegen als Prostituierte. Die Vaterschaft der Geschwister ist dementsprechend unklar und so wachsen sie zunächst bei einem gutmütigen Ersatzvater auf der Mülldeponie auf.
Juan Diego beginnt sich das Lesen beizubringen, in dem er dort Bücher vor der Verbrennung rettet. Als Jesuitenbruder Pepe davon erfährt, bringt er dem Jungen neuen Lesestoff auf die Deponie und nach einem Unfall bekommen die Geschwister im Kloster ihr eigenes Zimmer.
Mehrere Erzählebenen
Soweit die grobe Ausgangslage. Aber wie immer schöpft Irving aus dem Vollen und bevölkert das Szenario mit skurrilen Figuren, vom übereifrigen Mönchs-Neuzugang aus dem amerikanischen Mittleren Westen, einem Kriegsdienstverweigerer über ein komplettes Zirkusensemble. Dem nicht genug, gibt es noch eine zweite Erzählebene: Juan Diego, mittlerweile ein in den USA lebender Schriftsteller und Universitätsdozent, bricht zu einer Reise auf die Philippinen auf, um ein altes Versprechen wahr zu machen.
Dabei hat er zwei Medikamente im Gepäck: Betablocker, die er regelmäßig einnehmen muss, und, je nach Bedarf, auch Viagra. Dieser Bedarf stellt sich ein, als der Autor auf seiner Reise ein resolutes Mutter-TochterGespann kennenlernt. Je nach Kom- bination der Medikamente bestimmen die Erinnerungen an die Vergangenheit in Mexiko und seinen Weg in die USA seine Träume.
Über diese Träume wird die Geschichte im Wesentlichen erzählt, Irving-typisch natürlich alles andere als chronologisch. Mit den lebhaften Erinnerungen kann die Gegenwart allerdings nicht ganz mithalten, insbesondere Mutter und Tochter sind mehr Kunstfiguren als real wirkende Charaktere.
Besser gelungen sind die Irvingtypischen Betrachtungen über das Schreiben. Und für treue Fans hat er zahlreiche Anspielungen auf frühere Werke eingestreut. Zwar gibt es auch hier einige einprägende Szenen, etwa die sehr komische Begegnung mit einem im Hotelzimmer aufgestellten Aquarium in Manila. Die emotionalen Höhepunkte finden sich aber wie so oft bei Irving in der Vergangenheit.