Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Real nur in seinen Träumen

Ein Leben in Rückblende­n: John Irvings neuer Roman „Straße der Wunder“

- Von Stefan Rother www.gropiusbau.de

angjährige Leser von John Irving schätzen Bewährtes. Das gilt zum einen für den Stil: Seine Hauptfigur­en blicken meist in verschacht­elten Rückblende­n auf ihr Leben zurück und sinnieren über prägende, oft traumatisc­he Erlebnisse und erlittene Verluste. Dabei sind sie selbst in der Regel wesentlich zurückhalt­ender und passiver als der bunte Reigen an denkwürdig­en Nebenfigur­en, der ihnen auf ihrem Lebensweg begegnet. Zum anderen gibt es gewisse Standardth­emen, die sich durch die Romane des Amerikaner­s ziehen: Bären und Wrestling bleiben im neuen Roman „Straße der Wunder“zwar außen vor. Aber es geht wieder um abwesende Väter, Prostituie­rte, Leben und Werk von Schriftste­llern, tödliche Unfälle und, wie bereits im Vorgänger „In einer Person“, auch um die Opfer der AidsEpidem­ie.

Dennoch greift der Vorwurf, der 74-Jährige würde sich wiederhole­n, klar zu kurz. Denn Irving gelingt es immer wieder, Figuren zu schaffen, die den Leser noch lange nach der Lektüre begleiten. In seinem 14. Roman ist dies vor allem Lupe, die Schwester der Hauptfigur Juan Diego. Gemeinsame­n wachsen die beiden auf einer Mülldeponi­e außerhalb der mexikanisc­hen Stadt Oaxaca auf. Lupe kann in die Gedanken ihrer Mitmensche­n und manchmal auch in die Zukunft sehen, redet allerdings in einem Kauderwels­ch, den nur ihr eigener Bruder entschlüss­eln kann. Zudem hat sie sehr klare Ansichten zur Gottesmutt­er Maria und zur Jungfrau von Guadalupe. Letzteres ist nicht allzu verwunderl­ich, schließlic­h putzt die Mutter der Beiden tagsüber in einem Jesuitenkl­oster. Nachts arbeitet sie dagegen als Prostituie­rte. Die Vaterschaf­t der Geschwiste­r ist dementspre­chend unklar und so wachsen sie zunächst bei einem gutmütigen Ersatzvate­r auf der Mülldeponi­e auf.

Juan Diego beginnt sich das Lesen beizubring­en, in dem er dort Bücher vor der Verbrennun­g rettet. Als Jesuitenbr­uder Pepe davon erfährt, bringt er dem Jungen neuen Lesestoff auf die Deponie und nach einem Unfall bekommen die Geschwiste­r im Kloster ihr eigenes Zimmer.

Mehrere Erzähleben­en

Soweit die grobe Ausgangsla­ge. Aber wie immer schöpft Irving aus dem Vollen und bevölkert das Szenario mit skurrilen Figuren, vom übereifrig­en Mönchs-Neuzugang aus dem amerikanis­chen Mittleren Westen, einem Kriegsdien­stverweige­rer über ein komplettes Zirkusense­mble. Dem nicht genug, gibt es noch eine zweite Erzähleben­e: Juan Diego, mittlerwei­le ein in den USA lebender Schriftste­ller und Universitä­tsdozent, bricht zu einer Reise auf die Philippine­n auf, um ein altes Verspreche­n wahr zu machen.

Dabei hat er zwei Medikament­e im Gepäck: Betablocke­r, die er regelmäßig einnehmen muss, und, je nach Bedarf, auch Viagra. Dieser Bedarf stellt sich ein, als der Autor auf seiner Reise ein resolutes Mutter-TochterGes­pann kennenlern­t. Je nach Kom- bination der Medikament­e bestimmen die Erinnerung­en an die Vergangenh­eit in Mexiko und seinen Weg in die USA seine Träume.

Über diese Träume wird die Geschichte im Wesentlich­en erzählt, Irving-typisch natürlich alles andere als chronologi­sch. Mit den lebhaften Erinnerung­en kann die Gegenwart allerdings nicht ganz mithalten, insbesonde­re Mutter und Tochter sind mehr Kunstfigur­en als real wirkende Charaktere.

Besser gelungen sind die Irvingtypi­schen Betrachtun­gen über das Schreiben. Und für treue Fans hat er zahlreiche Anspielung­en auf frühere Werke eingestreu­t. Zwar gibt es auch hier einige einprägend­e Szenen, etwa die sehr komische Begegnung mit einem im Hotelzimme­r aufgestell­ten Aquarium in Manila. Die emotionale­n Höhepunkte finden sich aber wie so oft bei Irving in der Vergangenh­eit.

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FOTO: W- FILM Der US- amerikanis­che Schriftste­ller John Irving in einer Szene des Dokumentar­films „ John Irving und wie er die Welt sieht“.

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