Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Streit um Ausmaß des Insektensterbens
Forscher befürchten „dramatischen Rückgang“, belastbare Daten für das Land fehlen aber
STUTTGART - Es sind dramatische Befunde: 45 Prozent aller Insektenarten in Deutschland stehen auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion – und sind damit vom Aussterben bedroht. Für Baden-Württemberg speziell gibt es dazu keine belastbaren Daten. Doch Forscher warnen davor, das Problem kleinzureden.
Die Naturschutzverbände Nabu und BUND gehen davon aus, dass bis zu 80 Prozent weniger Insekten in Deutschland leben als vor einigen Jahren. Diese Zahl stützt sich auf Beobachtungen des Entomologischen Vereins Krefeld. 35 Jahre lang beobachteten ehrenamtliche Forscher das Vorkommen von Insekten. Sie konstatierten 2016 einen 80-Prozent-Rückgang.
Ob sich dieser Befund übertragen lässt, ist umstritten. Deshalb wollte die FDP vom Stuttgarter Umweltministerium wissen, wie man die Situation im Land einschätzt. Fazit: Es fehlen systematische Langzeitstudien dazu. Deswegen kann man ein flächendeckendes Insektensterben weder bestätigen noch ausschließen. „Es gibt gute Gründe zur Annahme, dass sich der Rückgang der Insektenpopulationen regional sehr unterschiedlich darstellt“, folgert Friedrich Bullinger, agrarpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, aus dem Schreiben.
Ergebnisse übertragbar
Baden-Württemberg steht vor demselben Problem wie alle anderen Bundesländer. Zwar mehren sich Anzeichen dafür, dass in einigen Regionen deutlich weniger Insekten leben als noch vor Jahrzehnten. Doch welches Ausmaß das Phänomen beispielsweise in Baden-Württemberg hat, haben Forscher noch nicht untersucht. Nötig wäre es, landesweit möglichst viele Insektenarten systematisch zu überwachen. „Wir haben dafür Geld in den laufenden Haushaltsberatungen beantragt. Wir setzen uns dafür ein, dass wir es auch bekommen“, so ein Sprecher von Umweltminister Franz Untersteller (Grüne). Seit Jahrzehnten fordern Naturschützer Mittel dafür. „Unter den schwarz-gelben Landesregierungen war Naturschutz eher ein Stiefkind. Deswegen ist bisher noch nichts passiert“, so der Sprecher.
Einige Wissenschaftler halten die Ergebnisse aus NRW durchaus für übertragbar. Ende 2016 unterzeichneten 77 Forscher in Stuttgart eine Resolution. Darin heißt es: „Die Erhebungen aus Naturschutzgebieten in Nordrhein-Westfalen lassen befürchten, dass unsere Landschaften bereits in wenigen Jahren weitgehend insektenfrei sein werden.“Sie sehen zahlreiche Indizien für ein dramatisches Insektensterben.
Arnold Staniczek leitet die Abteilung Insektenkunde im Naturkundemuseum Stuttgart. Anhand der Sammlung kann man nachvollziehen, an welchen Orten wie viele Arten in Baden-Württemberg vor 100 Jahren und heute gefunden wurden. „Die Anzahl der Arten, die wir nachweisen können, geht dramatisch zurück, vor allem seit der Jahrtausendwende“, so Staniczek.
Mehrere Gründe für Artenrückgang
Forscher machen mehrere Ursachen für das Sterben aus. Erstens verschwinden Lebensräume von Insekten. Baugebiete, Gewerbeflächen, Straßen, all das frisst Flächen. Zweitens verändert der Klimawandel die Lebensbedingungen. Heimischen Arten wird es zu warm, andere Insekten wandern ein. Und drittens: die Landwirtschaft. Monokulturen, der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln und das Düngen mit Gülle zerstören Lebensgrundlagen für Insekten. „Zahlreiche Forschungsergebnisse lassen keinen Zweifel daran, dass die aktuelle Form der Landwirtschaft zu einem massiven Rückgang der Artenvielfalt führt“, konstatieren jene Forscher, die die Stuttgarter Resolution unterzeichnet haben. Das Umweltministerium nennt die landwirtschaftliche Nutzung ebenfalls als eine Hauptursache.
Nicht eindeutig geklärt ist aus Sicht der Ministerialen die Wirkung der Neonicotinoide. Diese Wirkstoffe sind in Pflanzenschutzmitteln enthalten und stehen im Verdacht, für Insekten giftig zu sein. Naturschützer und Grüne fordern, Neonicotinoide zu verbieten. „Die Auswirkungen auf Honigbienen werden in der Wissenschaft nach wie vor kontrovers diskutiert“, heißt es dazu aus dem Umweltministerium. In Studien fanden Bienen zum Beispiel nicht mehr zurück in ihren Stock, nachdem sie den Wirkstoffen ausgesetzt waren. Es wurden zwar Effekte auf Einzelbienen nachgewiesen – ob diese aber auf ganze Völker in allen Regionen Deutschlands gelten, ist umstritten. Wissenschaftler wie der Biologe Staniczek dagegen sind sich sicher: Das Pestizid trägt maßgeblich zum Insektensterben bei.
Landwirte weisen Vorwurf zurück
Landwirte wehren sich und weisen darauf hin, dass sie viel zum Artenschutz beitragen – auch weil sie dafür Fördermittel erhalten. Nach Angaben des Deutschen Bauernverbandes werden solche Programme zum Naturschutz auf 30 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzflächen Deutschlands umgesetzt. Landwirte pflanzen unter anderem Hecken oder säen Blühstreifen, um Insekten Lebensräume zu bieten.
Die FDP im Stuttgarter Landtag springt den Bauern bei. „Die Grünen machen es sich zu einfach, wenn sie einen einzigen, zumal unzureichend erforschten Erklärungsfaktor für das Insektensterben herausgreifen“, sagt FDP-Agrarexperte Bullinger. Das zeige die Antwort aus dem Umweltministerium auf seine Anfrage. Darin konstatiert das Haus des grünen Umweltministers Untersteller: Zum Einfluss des Klimawandels, der eingewanderten Arten und des Flächenfraßes lägen noch keine aussagekräftigen Studien vor.