Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Fiasko am Oberrhein
Die Sperrung der Rheintalbahn zeigt die Empfindlichkeit einer der wichtigsten Nord-Süd-Trassen Europas
KARLSRUHE - Für den 52-jährigen Diplom-Wirtschaftsmathematiker Matthias Lieb ist der Unfall nahe dem badischen Rastatt so was wie der „Super-GAU“. Die Vollsperrung der Rheintalbahn über Wochen infolge einer verunglückten Tunnelbaumaßnahme sei „symptomatisch für den Zustand des bundeseigenen Eisenbahnverkehrs in Deutschland“, schimpft er. Der Zahlenexperte, der die Fahrpläne der Deutschen Bahn quasi in- und auswendig kennt, ist seit 2004 Landesvorsitzender des ökologisch ausgerichteten Verkehrsclubs Deutschland (VCD). Eine komplizierte Baumaßnahme werde „ohne ausreichende Risikoanalyse und ohne einen Plan B begonnen – am Ende steht hilflos die Einstellung des Gesamtverkehrs“, sagt Lieb.
Tagelang hatte die Bahn verharmlosend „von technischer Störung“gesprochen. Inzwischen redet sie von „Havarie“. Der Vorfall ist mittlerweile bundesweit ein Thema: Seit dem 12. August ist der Bahnverkehr auf der Rheintalbahn zwischen Rastatt und Baden-Baden unterbrochen, derzeit verkehren auf der Trasse weder Personen- noch Güterverkehrszüge. Nahe dem Rastatter Stadtteil Niederbühl senkten sich die Gleise ab, bereits fertiggestellte Tunnelringe, sogenannte Tübbinge im Untergrund, hatten sich verschoben. Die Sperrung bleibt bis Oktober. Und das auf einer der meistbefahrenen, wichtigsten Nord-Süd-Trassen in ganz Deutschland. Sie ist gleichzeitig Teil des transeuropäischen Güterzugskorridors Rotterdam-Genua.
Bereits vor der Sperrung sei die Rheintalbahn in ihren zweigleisigen Abschnitten „an der Belastungsgrenze“gewesen. Die aktuelle Sperrung sei ein weiterer Beleg dafür, was für eine kritische Infrastruktur die Rheintalbahn darstelle, beklagt Andreas Kempff. Der gebürtige Hamburger ist seit 2007 Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Südlicher Oberrhein in Freiburg. Kempff hat die Befindlichkeiten am Oberrhein quasi „von der Pike auf“studiert: Vor der Tätigkeit in Freiburg leitete er den Geschäftsbereich „Standortpolitik“der IHK in Karlsruhe – der eng verbunden bleibt mit der Qualität der Infrastruktur. Eine Feldstudie quasi am Nord-Ende der Bahntrasse.
Womöglich zu wenig investiert
Der Güterverkehr in Europa sei „stark international vernetzt und macht nicht an Ländergrenzen halt“, sagt Kempff. In der aktuellen Lage, nach der Havarie bei Rastatt, räche es sich besonders, dass „bei Ausweichstrecken zu wenig investiert wurde“. Zwischen Rastatt, der Südpfalz und dem benachbarten Elsass gebe es mehrere Ausweichtrassen – die seien aber entweder nicht elektrifiziert, nur eingleisig oder „mit völlig veralteter Signaltechnik“ausgestattet, weiß der Freiburger IHKMann. Gerade „an grenzüberschreitenden Verkehrsverbindungen“sei gespart worden. Jenseits der Probleme, die für Handel und Gewerbe in Südbaden durch den unterbrochenen Güterverkehr auftreten, befürchtet Kempff kurzfristig auch Effekte auf den Tourismus im Schwarzwald. Es sei wahrscheinlich, dass Besucher „einfach nicht mehr buchen werden, wenn sie so unkomfortabel anreisen müssen“. Der Umstieg auf Busse bei Rastatt und Baden-Baden verlängert die Reisezeiten um bis zu einer Stunde.
Bis zu 200 Güterzüge täglich
Bis zu 200 Güterzüge täglich verkehren „in Stoßzeiten“auf der Trasse zwischen Karlsruhe und Basel, das bestätigte vergangene Woche Sven Hantel, der in Stuttgart sitzende Konzernbeauftragte der Bahn für Baden-Württemberg. Noch ist Ferienzeit – erst im September werden die „Anforderungen“, wie die Bahn die Bestellung von Gütertrassen hausintern nennt, wieder bis an die mögliche Obergrenze ansteigen. Gerade mal „16 Trassen“könnten alternativ über die Gäubahn und die Strecke Horb-Plochingen abgewickelt werden, weitere sieben – bestätigt Hantel – sollen über die Südbahn zwischen Ulm und Friedrichshafen verkehren. Vernachlässigbare Größen.
Völlig überlasteter Abschnitt
Der Aus- und Neubau der Rheintalbahnstrecke steht schon seit Jahrzehnten auf der politischen Agenda, geplant ist ein vierspuriger Ausbau im gesamten Verlauf der 182 Kilometer langen Trasse. Aufgrund von Studien wurde das Bauvorhaben erstmals 1980 in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen. Schon damals galt vor allem der Streckenabschnitt zwischen Rastatt und Offenburg als „völlig überlastet“. Der Güterverkehr soll künftig „entmischt“werden: Zwei Gleise wären dann nur noch für die Güterzüge reserviert, die anderen für die bis zu 250 Stundenkilometer fahrenden Schnellzüge – den ICE und grenzüberschreitend den TGV. Fertigstellung, so optimistische Schätzungen, könnte im Jahr 2030 sein. Doch es hakt an allen Ecken und Enden.
Jahrelang hatte die Bahn bei Offenburg darauf gepocht, die Stadt oberirdisch durchfahren zu können: mit bis zu sieben Meter hohen Lärmschutzwällen. Es gab Tausende von Einwendungen. Eine Nonne, Schwester Martina von den Augustiner Chorfrauen, galt lange als Speerspitze der Kritiker an mangelndem Lärmschutz. Die oberirdische Trasse A3 wurde 2013 endgültig als nicht genehmigungsfähig erklärt. Seitdem läuft ein komplett neu aufgerolltes Planfeststellungsverfahren – für einen künftig rund sieben Kilometer langen Tunnel, der Offenburg in zwei Röhren unterfahren soll. Wann diese Pläne baureif sein können, ist derzeit wieder völlig offen. Die Bahn selbst, so heißt es, rechnet mit der Inbetriebnahme „nicht vor 2035“.
Lange Jahre aufgeschoben
In Rastatt hätte ein Tunnel schon seit 1998 in Bau gehen können, seit diesem Zeitpunkt bestand dort erstmals Baurecht. Doch dem Bund als Bauträger waren die Kosten für die Baumaßnahme damals zu hoch. Deshalb gab es den Auftrag an die Bahn, nochmals Alternativen zu prüfen. Unter anderem eine Trassenführung entlang der Autobahn 5 war lange im Gespräch. Doch diese wurde verworfen, am Ende – nach gefühlt Dutzenden von neuen Prüfaufträgen – blieb es beim Tunnel. Weil der ursprüngliche Planfeststellungsbeschluss – zwischenzeitlich war das Jahr 2009 erreicht – aber verfallen war, musste auch hier wieder neu geplant werden. Nun nach EU-Recht mit einem Tunnel mit zwei getrennten Röhren: Sie sind seit dem Mai 2016 in Bau. Die Ost-Röhre war kurz vor der Fertigstellung im Rohbau – bis zur Havarie.
Totenstille auf der Eisenbahn
Bereits seit 2012 in Betrieb ist dagegen der Katzenbergtunnel, weit südlich von Freiburg im Markgräfler Land, gelegen zwischen Bad Bellingen und Efringen-Kirchen: mit rund 9,4 Kilometer Länge gleichzeitig das größte Einzelprojekt der Rheintalstrecke. Schon einige Jahre in Betrieb ist auch das vierspurige Gleis bei Baden-Baden. Auf diesem Abschnitt herrscht jedoch – aufgrund der seit dem 12. August bestehenden Sperrung – großenteils Totenstille. Hier setzt auch die Kritik des Netzwerks Europäischer Eisenbahnen (NEE), einer Lobbyvereinigung der privatwirtschaftlich organisierten Gütertransporteure, ein. Die Eisenbahnverkehrsunternehmen hätten seit der Havarie derzeit „alleine rund zwölf Millionen Euro Umsatzeinbußen pro Woche zu verkraften“. Das NEE forderte aus dem aktuellen Anlass eine Sondersitzung des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur beim Deutschen Bundestag. Die DB Tochter Bahn Cargo macht derzeit keine Angaben über Rückstaus bei Güterzügen.
Für den Karlsruher Eisenbahnexperten Eberhard Hohnecker war schnell klar, was die Gleisabsenkung bei Rastatt nach sich ziehen würde: „Wir Fachleute, die wir uns mit solchen Fragen beschäftigen, wissen nur zu gut, wie sich da schnell viele Probleme bei Bahn, Spediteuren und drum herum ergeben.“Hohnecker hatte mit einem Gutachten schon in den 1980er-Jahren mit dazu beigetragen, dass auf den Streckenabschnitten zwischen Karlsruhe, Baden-Baden und Offenburg ein viertes Gleis eingeplant wird. Die Bahn selbst wollte ursprünglich nur drei Gleise bauen.
Vorwürfe an die Politik
Ansonsten hält Hohnecker, seit 1994 Lehrstuhlinhaber für Eisenbahnwesen am Karlsruher Institut für Technologie (KIT/der früheren Technischen Hochschule), mit seiner Kritik nicht hinter dem Berg: Es sei über Jahre versäumt worden, weitere Kapazitäten für den Güterfernverkehr in der Nord-Süd-Achse aufzubauen. Die Politik habe „in aller Ruhe zugeschaut, keine Initiativen ergriffen“.
Hohnecker war vor seiner wissenschaftlichen Laufbahn insgesamt zwölf Jahre in Diensten der damaligen Deutschen Bundesbahn. Schon Anfang der 1980er-Jahre hätte er, wie er beteuert, im Angesicht „des autobahnähnlichen Ausbaus der auf die Großstädte zulaufenden Bundesstraßen“gefragt: „… und was macht der Schienenverkehr?“Seit Jahrzehnten gebe es zudem, meist nur im Wahlkampf, den Politikerspruch „Güter gehören auf die Bahn“. Das interessiere doch niemand wirklich, bedauert er. Die Lobbyarbeit der Bahn sei bei Weitem nicht so gut, wie jene der deutschen Autoindustrie.