Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
EU will Hilfen für die Türkei kürzen
Beitrittsgespräche werden aber nicht abgebrochen – Gipfel einigt sich in Sachen Migration
BRÜSSEL (epd/dpa/AFP) - Die Europäische Union stellt im Konflikt mit der Türkei milliardenschwere Finanzhilfen auf den Prüfstand. Die EU-Kommission soll im Auftrag der Staats- und Regierungschefs ermitteln, ob die sogenannten Vorbeitrittshilfen gekürzt oder umgewidmet werden, erklärten EU-Ratspräsident Donald Tusk und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Freitag nach dem EU-Gipfel in Brüssel. „Wir wollen die Tür nach Ankara offen halten, aber die gegenwärtige Realität in der Türkei macht dies schwierig“, sagte Tusk.
Das Thema war auf Wunsch von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf die Agenda genommen worden. Sie und ihre Kollegen hätten lange über die Vorbeitrittshilfen, die Länder mit EU-Kandidatenstatus an die Union heranführen sollen, gesprochen. Merkels Worten zufolge soll bei einer Kürzung „in verantwortbarer Weise“vorgegangen werden, da das Geld nicht nur der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan zugute komme. Vielmehr flössen Hilfen auch an „diejenigen, die sich eine andere Entwicklung in der Türkei vorstellen“, so Merkel. Juncker sagte am Freitag, bereits jetzt werde in der Türkei ein Drittel des Geldes „noblen Zielen zugeführt“. Er nannte die Unterstützung der Zivilgesellschaft und die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit.
Die Vorbeitrittshilfen fließen im Rahmen der Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU. Für 2014 bis 2020 waren bislang gut 4,45 Milliarden Euro vorgesehen, allein für 2017 rund 636 Millionen Euro. Das Geld soll Reformen vorantreiben. Die Beitrittsgespräche mit der Türkei, die derzeit de facto ruhen, sollen jedoch nicht abgebrochen werden. Für einen solchen Einschnitt gebe es unter den EU-Chefs „im Grunde keine Mehrheit“, sagte Merkel.
Während die Kanzlerin die Türkei einerseits kritisierte, würdigte sie andererseits deren Flüchtlingspolitik. Die Staats- und Regierungschefs waren sich einig, am mit Ankara geschlossenen Flüchtlingspakt festzuhalten. Im Gegensatz zur heiß diskutierten Brexit-Debatte, in der es in Brüssel erneut keine Fortschritte gab, einigte man sich in puncto Migration auf eine gemeinsame Strategie: Die EU und ihre Mitgliedstaaten wollen die „volle Kontrolle“über die Außengrenzen. Fluchtrouten sollen stärker überwacht werden. Durch mehr Abschiebungen, auch mithilfe der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, wolle man Migrationswilligen den Anreiz zur Flucht nehmen. Staaten der Sahelzone, etwa Mali oder Burkina Faso, sollen in ihrem Kampf gegen Schleuser unterstützt werden. Für Ankunftsländer wie Griechenland und Italien soll es ebenfalls mehr Hilfen aus Brüssel geben. Die Zusammenarbeit mit Herkunftsländern wie Afghanistan und Transitstaaten wie Libyen soll ausgebaut werden.
BUDAPEST - Der Schwabenberg erhebt sich kurz hinter Budapest. Das erzählt Ungarns Justizstaatssekretär dem baden-württembergischen Justizminister Guido Wolf. Endlich etwas verbinden in diesem schwierigen Gespräch in Ungarns Hauptstadt? Weit gefehlt. Soldaten aus Schwaben lagerten dort, so der Staatssekretär, um als Teil christlicher Heere Budapest vom Joch des Islams zu befreien. Die Botschaft: Anders als heute wart ihr mal auf unserer Seite, wenn es gegen Eindringlinge aus dem Orient ging.
Die Szene zeigt, auf welch schwierigem Parkett sich Wolf bei seinem Besuch in Budapest bewegt hat. Als Minister für Justiz und Europa hatte er es mit Vertretern einer Regierung zu tun, die auf beiden Feldern problematische Linien verfolgt. Ungarns Weigerung, sich an Urteile des Europäischen Gerichtshofs zu halten, bedeutet eine ernste Gefahr für Europa, sollte sie Schule machen.
Treffen mit Regierungskritikern
Premier Viktor Orbán und seine rechtsnationale Fidesz-Partei lenken das Land seit 2010. Nun kämpft sie darum, bei den Wahlen im April 2018 erneut mehr als die Hälfte der Ungarn hinter sich zu bringen – worauf die Umfragen hindeuten. Doch Orbán geht gerne auf Nummer sicher und so hängen überall Plakate, die den Milliardär George Soros zeigen. Ihn beschuldigt die Regierung, er wolle mit seinen Milliardenspenden an Nicht-Regierungsorganisationen Millionen Flüchtlinge ins Land lotsen – eine offensichtlich abenteuerliche These.
Eine Regierung, die ein halbes Jahr vor der Wahl für die eigene Partei wirbt, finanziert aus Steuergeldern – in Deutschland undenkbar. Gergely Gulyás, Fraktionschef der Fidesz, sagt lapidar: „Diese NGOs kritisieren uns, deshalb führen einen politischen Kampf. Im Wahlkampf ginge das natürlich auch in unserem Rechtsstaat nicht. Aber der Wahlkampf beginnt rein rechtlich erst 52 Tage vor dem Wahltermin.“
Wolf trifft auch Regierungskritiker. Ihr Bild von der Demokratie Ungarns ist düster „Ungarn ist keine Diktatur, aber es gibt keine echten Gegengewichte zur Macht des Ministerpräsidenten“, sagt einer. Orbán sorgt geschickt dafür, dass das so bleibt. Regierungskritische Zeitungen werden von Orbán-nahen Investoren aufgekauft und aus vorgeschobenen wirtschaftlichen Gründen geschlossen. So ist das eben in einer Marktwirtschaft, wenn sich Geschäfte nicht mehr lohnen, heißt es dazu.
Nach außen soll die Demokratie intakt wirken, aber an vermeintliche Kleinigkeiten zeigt sich, wie es um sie steht. So kann das Parlament selbstverständlich einen Untersuchungsausschuss einsetzen. Nur: Dazu benötigen die Abgeordneten eine absolute Mehrheit. Gegen die amtierende Regierung und ihre Fraktionen ist das Kontrollgremium also nicht durchsetzbar. Im deutschen Bundestag reicht ein Viertel der Abgeordnetenstimmen, um einen solchen Ausschuss einzurichten.
Die Flüchtlingspolitik ist neben der Sorge um den Rechtsstaat Ungarns eines der bestimmenden Themen von Wolfs Besuch. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat Ungarn dazu verurteilt, sich an einen Beschluss der EU-Mitglieder zu halten und Flüchtlinge aufzunehmen. 90 000 sollen auf die EU-Staaten verteilt werden, Ungarn müsste knapp 1300 beherbergen. Die Regierung betont zwar, man akzeptiere den Richterspruch. Es bleibe aber dabei: Budapest lasse sich von Brüssel nicht zwingen, Flüchtlinge aufzunehmen. Wolf mahnt seine Gesprächspartner deutlich: „Hinter der Flüchtlingskrise droht eine viel größere Krise – eine Krise Europas.“Solidarität untereinander und gemeinsame Verantwortung für Probleme seien Grundlagen der EU. Wer sich nicht an Vereinbarungen und Urteile halte, sei eine Gefahr für die Union.
Zoltán Balog, Bildungs- und Sozialminister, versucht solche Sorgen zu zerstreuen. „Wir wollen in der EU bleiben, aber wir wünschen uns eine andere Art, wie sie funktionieren soll“. Doch klar ist auch im Gespräch mit ihm: Ungarn wünscht sich ein anderes Europa. Weniger Kompetenzen für Brüssel, eine Konzentration auf die Wirtschaftsunion. Dafür sucht das Land Verbündete. Derzeit leitet Ungarn die Visegrad-Gruppe, der außerdem Polen, Tschechien und die Slowakei angehören. Sie stützt diesen Kurs. Nach dem Wahlsieg der ÖVP in Österreich hofft Budapest auf Rückenwind aus Wien. Regierungskritiker warnen aber davor, Ungarn wie einen Paria zu behandeln. „Wenn Orbán überhaupt auf jemanden hört, dann auf Stimmen aus Deutschland“, sagt einer der Regierungskritiker.