Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Randecker will die Wahrheit
Ex-Archivar entlarvte vor 30 Jahren die „Hungerchronik“als Fälschung.
LAICHINGEN - „Mich hat das Schicksal der Juden immer schon sehr berührt.“So begründet Günter Randecker sein leidenschaftliches, intensives Interesse an der Richtigstellung der „Laichinger Hungerchronik“. In dieser wird das Verhalten der jüdischen Bevölkerung während der Hungerjahre 1816/17 auf der Alb nachweislich „völlig falsch“dargestellt, so Randecker bei einem Vortrag am vergangenen Donnerstag in Laichingen.
Er war es, der die Hungerchronik vor 30 Jahren als Fälschung entlarvte. 18 interessierte Zuhörer waren ins Hotel Krehl gekommen, darunter zahlreiche Laichinger Heimatforscher. Zur Veranstaltung hatte die „Schwäbische Zeitung“eingeladen.
„Ich bin Volkswirt und kein Historiker“, teilte Randecker mit, und weiter: „Mein Mathelehrer hat immer gesagt: ,Exakt muss es sein’“. Und das sei die „Laichinger Hungerchronik“eben in keinster Weise. Dass dies den Historikern nicht schon viel früher aufgefallen ist, macht Randecker heute noch fassungslos. „Quellen müssen auf Herz und Nieren geprüft werden.“
Noch heute zitiert
Randecker ist ein ungewöhnlicher Referent. Nach Laichingen bringt er einen Suppenteller aus dem Münsinger Gasthaus Ochsen mit. Denn Christian August Schnerring, der Urheber der Fälschung, hatte eine Tochter des Hauses geheiratet und „vielleicht“, so Randecker, „sogar aus diesem Teller eine Suppe gegessen, die er vor allem den Laichingern eingebrockt hat und die ich bis heute auslöffeln muss“, verkündete er.
Was Randecker ärgert: Die Hungerchronik würde noch heute, 30 Jahre nachdem er sie als Fälschung entlarvt hat, als glaubwürdiges Lokaldokument zitiert.
Doch wie kam es überhaupt dazu, zu Randeckers Coup?
Es war 1987 und Randecker Stadtarchivar in Münsingen. Er stellte als solcher Nachforschungen zur 650Jahr-Feier der Stadt an. Dabei fielen ihm die „Handschriftlichen Aufzeichnungen eines Älblers über die Teuerung in der Hungersnot 1816/17“in die Hände: die „Laichinger Hungerchronik“. Ein Laichinger Glasermeister namens Peter Bürkle, der jedoch von Schnerring erfunden worden war, hatte, angeblich, auf über 40 Blättern festgehalten, was die Tage jener harten Notjahre brachten.
Dachte man zumindest. Als Zeichen ihrer Echtheit galten bis dato allein schon die handschriftliche Anfertigung der Schrift und die detailgenaue Beschreibung der Umstände jener Zeit.
Tinte nicht authentisch
Die gefälschte Hungerchronik, die der aus Laichingen stammende Volksschullehrer und spätere Rektor Christian August Schnerring (18701951) verfasst hat, wurde zwischen 1913 und 1917 in mehreren Versionen in volks- und landeskundlichen Zeitschriften veröffentlicht. Namhafte Verlage druckten den offenbar ungeprüften Text. 1987 stellte Randecker aber rasch fest, dass viele der in dem Schriftstück genannten „Fakten“zu den tatsächlichen Ereignissen während der Hungerjahre vor 200 Jahren nicht passten. Als ebenso nicht authentisch stellte sich auch die Handschrift heraus, sowie die Rechtschreibung, die Papierqualität und die benutzte Tinte.
Vor allem aber die Berichte über jüdische Händler aus Buttenhausen waren schlicht und einfach erlogen. „Mai 1816 – Auch viele Händler gehen um von Buttenhausen und der Abraham kauft alles Getreide zusammen“, ist in der Hungerchronik zu lesen. Randecker konnte in Archiven zu jener Zeit aber nichts dazu finden, die Buttenhausener Juden waren damals auch keine Getreidehändler.
Relativ einfach, so Randecker im Laichinger Krehl, lasse sich dies anhand von Steuerempfangsbüchern nachweisen. Noch viele weitere solcher falscher Geschehnisse finden sich in der Chronik. „Schnerring ist schluderhaft mit historischen Fakten umgegangen“, sagte Randecker; und keiner habe dies gemerkt. Besonders schlimm sei, dass sogar das Brotmuseum in Ulm noch heute unkritisch ein Bild eines erhängten Juden zur Illustration der Hungerjahre aus dem Machwerk übernommen habe.
Letztendlich, so Randecker, habe Schnerring eine für die damalige Zeit politisch salonfähige Chronik neu geschrieben, in der den Juden die Schuld für schwere äußere Umstände gegeben wurde – als Sündenböcke. Und die Zeilen fielen – leider – auf fruchtbaren Boden. „Viele wussten von der Fälschung, aber der Text wurde als volkskundliches Wissen behandelt“, sagte Randecker; auch von namhaften Persönlichkeiten.
„Viele derjenigen, die diese gefälschte Hungerchronik abdruckten, haben sich um die Heimatkunde verdient gemacht. Aber dass Schnerring gedeckt wurde, überschattet diese Verdienste.“Übrigens: Der inzwischen verstorbene Laichinger Lokalhistoriker Friedrich Mangold war einer der ersten, der hinter der Chronik eine Fälschung vermutet hatte.