Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Psychisch Kranker zündet Zugtoilette an
Vor Gericht kommt seine tragische Lebensgeschichte ans Licht – Das Urteil bedeutet die vielleicht letzte Chance
ULM - Den Schrecken ihres Lebens erlebten 70 Bahnkunden im September 2016 auf der Strecke StuttgartUlm. In einem Regionalzug brach während der Fahrt ein Brand aus. Die Passagiere und das Personal konnten in letzter Minute gerettet werden. Der Waggon brannte aus, es entstand ein Schaden von einer Million Euro. Jetzt musste sich ein junger Mann wegen schwerer Brandstiftung und gefährlichem Eingriff in den Bahnverkehr vor Gericht verantworten. Gestern fiel das Urteil: Zwei Jahre Freiheitsstrafe zur Bewährung, verbunden mit vielen Auflagen.
Am Ende des Verhandlungstags lagen sich der junge Mann und seine Mutter im Gerichtssaal in den Armen. Sie hatte Tränen in den Augen, für ihr Sorgenkind war es um viel gegangen: Die Staatsanwaltschaft hatte wegen Gemeingefährlichkeit eine dauerhafte Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt gefordert.
Es war ein Sonntag, als sich der Angeklagte auf der Heimfahrt nach Ravensburg befand, mit Umstieg in Ulm. Er fiel den Zugfahrern durch seine Hörgeräte und durch dauerndes Herumlaufen auf. Mehrfach benutzte er Toiletten. Zuletzt ein Behindertenklo, in dem sich ein Riesenspiegel befand, der offenbar eine verhängnisvolle Reaktion beim Angeklagten auslöste. „Ich sah ihn und konnte mich nicht mehr kontrollieren“, sagte der Mann vor Gericht. Er öffnete den Spiegelschrank und zündete Papierhandtücher an. Die Flammen griffen auf die dahinter installierte Elektronik über, was wie ein Brandbeschleuniger wirkte. Der Täter erfasste, was er angerichtet hatte. Er alarmierte den Zugführer, der die Türen des Zuges öffnete und die Fahrgäste aufforderte, nach dem Notstopp außerhalb von Jungingen auf freiem Feld auzusteigen. Die Feuerwehr war schnell am Ort, konnte aber den Totalschaden des Steuerwagens nicht verhindern. Warum er gezündelt habe, fragte der Richter. Die Antwort: „Es war eine Scheißwoche am Ausbildungsplatz.“
Nach der Tat ging der Angeklagte mit einigen Mitfahrern zu Fuß nach Ulm, um von dort weiterzufahren. Zunächst glaubten die Bahnexperten an einem technischen Fehler als Auslöser. Dann verdichteten sich wegen Zeugenaussagen die Anzeichen, dass der unruhige junge Mann mit dem Hörgerät der Brandstifter gewesen sein könnte. Nach anfänglichem Leugnen gab er die Tat zu. Die ungewöhnliche Tragik seines Lebens wurde bekannt. Er ist vor 26 Jahren fast taub auf die Welt gekommen. Der Vater verließ die Familie, die Mutter musste allein zurecht kommen. Der behinderte Sohn fiel im Kindergarten durch Aggressionen auf, er tötete Tiere und schmierte Kot an Türen. Als seine Mutter nicht mehr weiter wusste, suchte sie Hilfe bei einem Facharzt, der bei dem Sohn organische Persönlichkeitsund Impulskontrollstörungen feststellte. Der junge Mann wurde in speziellen Einrichtungen untergebracht, schaffte den Hauptschulabschluss an einer Gehörlosenschule und eine Berufsausbildung als Tagesbetreuer – immer wieder unterbrochen durch Krankenhausaufenthalte. Zu der Zeit, als er den Brand legte, machte er in einer Stiftung für psychisch Kranke eine Ausbildung als Fachlagerist. Er konnte sie auch nach der Tat fortsetzen und bekam durchgehend gute Beurteilungen. Das lag daran, dass er in einem psychiatrischen Krankenhaus in Erlangen medizinisch behandelt wurde, wo wohl die richtige Medikation für ihn gefunden worden war.
Wäre das Gericht dem Antrag der Staatsanwältin gefolgt, hätte der Angeklagte seine Lehre im Sommer dieses Jahres nicht beenden könnten. So gab das Gericht dem nicht einschlägig vorbestraften jungen Mann eine letzte Chance: durch eine Bewährungsstrafe mit verbindlichen Auflagen – obwohl die Prognosen laut psychiatrischem Gutachter bei diesem Krankheitsbild nicht rosig ist.