Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Gut sichtbar in Vergessenheit geraten
Vor 77 Jahren wurde das Frachtschiff „Goslar“vor Surinams Küste versenkt – Dort ragt das Wrack bis heute aus dem Wasser
PARAMARIBO (dpa) - Das kleine Boot von Ruben Sertimer setzt mit einem dumpfen Geräusch auf den Stahlkoloss auf – wie auf ein Stück Sand am Strand. Von hier aus kann man das im Meer liegende, rostende Schiff hochlaufen. Es ist die riesige Außenwand, die „Goslar“liegt seit der Nacht des 10. Mai 1940 zur Seite gesenkt im Wasser vor Paramaribo, der Hauptstadt Surinams. Ein Relikt des Zweiten Weltkriegs, es gehört seit 77 Jahren nun zum Stadtbild, eine kleine Touristenattraktion.
Einige Stellen sind so verrostet, dass ein Einbrechen droht, größere Löcher klaffen in der Wand, grüne Bäume sprießen. Der Blick ist besonders: Auf die Promenade Paramaribos, auf die große Bogenbrücke, die das Hafenbecken überspannt. Umgeben vom braunen, wogenden Wasser des Flusses Suriname, der ganz in der Nähe in den Atlantik mündet.
Es verirren sich aber nicht gerade viele Touristen in das kleinste Land Südamerikas, im Norden zwischen Guyana und Französisch-Guyana gelegen, seit 1975 unabhängig von den Niederlanden. Und auch das wohl ungewöhnlichste. Zehn Prozent der Bevölkerung sind Chinesen, es gibt bei gerade einmal 550 000 Einwohnern eine enorme Religionsvielfalt mit riesigen Moscheen, Hindu-Tempeln, Synagogen und Kirchen. Eine der größten Religionsgemeinschaften ist die protestantische Herrnhuter Brüdergemeinde, die ihre Wurzeln in Sachsen hat und durch ihre Missionsarbeit in den früheren Sklavenregionen viel Einfluss gewann.
Für zehn Euro zum Wrack
„Seit 37 Jahren fahre ich zur Goslar“, berichtet Bootsführer Ruben Sertimer (58). Für knapp zehn Euro fährt er an den Rand des deutschen Schiffes und mehrfach herum, die Masten liegen schräg im Wasser, an einer Stelle ist das Wrack auseinandergebrochen, aber noch ist es weithin sichtbar zu sehen. „Ich schätze, die Goslar könnte bald ganz auseinanderfallen und die Teile komplett versinken“, meint Sertimer.
Oben auf dem rostigen Wrack steht in weißen Lettern „NDP“, damit wirbt die regierende „Nationale Democratische Partij“von Präsident Dési Bouterse für sich. Bouterse tanzte bei seiner Wiederwahl im Jahr 2015 Frank Sinatras Klassiker „My Way“: In den 1980er-Jahren war er an einem blutigen Militärputsch beteiligt und wurde 2000 in den Niederlanden wegen Kokainhandels in Abwesenheit zu elf Jahren Haft verurteilt. Er soll an der illegalen Einfuhr von 474 Kilo Kokain in die Niederlande mitgewirkt haben, weshalb er kaum Auslandsreisen unternehmen kann.
Bouterse war auch mal mit einer niederländischen Nato-Einheit in den 1970er-Jahren kurz im niedersächsischen Seedorf stationiert, nur 200 Kilometer von Goslar entfernt. Bei dem Namen Goslar denken viele als erstes sicher an die zum UnescoWeltkulturerbe gehörende Altstadt und an den bekanntesten Einwohner, den geschäftsführenden deutschen Außenminister Sigmar Gabriel (SPD). Aber eher weniger an dieses nach der Stadt in Niedersachsen benannte Frachtschiff, das plötzlich das kleine Surinam zu einem Schauplatz des Zweiten Weltkriegs machte.
Vor Paramaribo gingen die nach surinamesischen Angaben 54 Besatzungsmitglieder am 5. September 1939 vor Anker, 16 Deutsche und 38 Chinesen – die Chinesen verließen nach kurzer Zeit Surinam.
Die deutschen Besatzungsmitglieder blieben in Paramaribo, gingen an Land und waren zum Warten verdammt, die Fahrt über den Atlantik galt gerade wegen der britischen Marine als zu gefährlich. Dann kam es am 10. Mai 1940 im Zuge des Westfeldzugs der deutschen Wehrmacht zum Überfall auf die Niederlande. Das veränderte auch die Situation für die Truppe der „Goslar“fundamental. Plötzlich war man mit dem Schiff in einem Land, das sich nun im Kriegszustand mit dem Deutschen Reich befand. Über das Radio erfuhren die Seeleute von dem Einmarsch.
Der örtliche niederländische Gouverneur gab Anweisung, die deutsche Besatzung festnehmen zu lassen. Doch man hatte sich auf den Fall vorbereitet, nur das Nötigste war noch an Bord. Als sich ein Boot mit Polizisten zur Festnahme näherte und ihnen eine halbe Stunde zum Verlassen des Schiffes gegeben wurde, öffneten die Seeleute die Luken, das Schiff lief voll Wasser. Vom Land aus konnten die Menschen das Sinken der „Goslar“beobachten, die Deutschen wurden abgeführt.
Riesige Stahlinsel
Sie wollten halt vermeiden, dass das Schiff in die Hände des neuen Feindes fiel. Da das Wasser an dieser Stelle nicht besonders tief ist, sank es bis heute nicht ganz und liegt als riesige verrostete Stahlinsel 200 Meter vor der Uferpromenade namens „Waterkant“. Bei einem Auseinanderbrechen könnten aber die Teile komplett versinken.
Das Wrack liegt nun schon so lange vor Paramaribo, dass es auch in lokalen Stadtplänen eingezeichnet ist. „Taucher haben versucht, es näher zu untersuchen, aber es ist zu gefährlich“, sagt Winston Lackin, enger Berater des Präsidenten Bouterse und von 2010 bis 2015 Außenminister Surinams. Es zu bergen, sei wegen des Gewichts schier unmöglich.