Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Der Geist der Geschwister Scholl
Eine Spurensuche zum 75. Jahrestag ihrer Hinrichtung
MÜNCHEN - Es ist ein Donnerstagmorgen als die Studierenden Hans und Sophie Scholl die Ludwig-Maximilian-Universität in München mit einem Koffer betreten. Darin: das sechste Flugblatt der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“. „Im Namen des ganzen deutschen Volkes fordern wir vom Staat Adolf Hitlers die persönliche Freiheit, das kostbarste Gut der Deutschen zurück, um das er uns in der erbärmlichsten Weise betrogen“, heißt es darin. Kurze Zeit später flattern die Flugblätter von der Balustrade des Lichthofes. Die Beiden werden verhaftet – am morgigen Sonntag vor 75 Jahren – und am 22. Februar 1943 mit der Guillotine hingerichtet. Die Geschwister gehen als Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime in die Geschichte ein.
75 Jahre später ist das Gedenken an die Geschwister Scholl und die „Weiße Rose“fester Bestandteil von München. Straßen und Plätze tragen die Namen der Widerstandskämpfer. Institute, Schulen und Vereine sind nach ihnen benannt. Der Gerichtssaal im Palast der Justiz, in dem die Todesurteile gesprochen wurden, steht heute der Öffentlichkeit offen, der Hinrichtungsraum in der JVA Stadelheim ist Gedenkstätte. Auf dem Geschwister-Scholl-Platz vor der Universität sind die Flugblätter wie Stolpersteine in den Gehweg eingelassen. Reisegruppen bleiben hier stehen, posieren für ein Foto.
Mehr als dreißig Gedenkveranstaltungen verschiedener Initiatoren sind in der bayerischen Landeshauptstadt dieser Tage angekündigt. Darunter Orgelkonzerte, Lesungen, Vorträge, Kranzniederlegungen – und Gedenkgottesdienste.
Am Aschermittwoch wabert Weihrauch durch die Bankreihen im Münchner Dom, während Erzbischof Reinhard Kardinal Marx in Richtung Altar schreitet. Der Tross aus Geistlichen und Messdienern um den Erzbischof trägt ein Kreuz in das Kirchenschiff. Ein Kreuz, das eigentlich seit mehr als 75 Jahren in einem Raum der JVA Stadelheim hängt. Es ist kein gewöhnlicher Gottesdienst. Titel: „Umkehr und Widerstand“. Fernsehkameras sind auf den Altar gerichtet, an einigen Holzbänken kleben Zettel mit der Aufschrift „reserviert“. Ein Chor singt zum Einzug, bis das Kreuz seinen Platz neben dem Altar findet.
Wenig später wird Marx in seiner Predigt an die Menschen appellieren erschütterlich zu bleiben und mit den Augen Gottes in die Welt zu schauen. „So wie es auch die Mitglieder der ,Weißen Rose’ erkannt haben, in ihrer Bewegung. Mit den Augen von Jesus von Nazareth hinsehen und dann sagen: nein, so nicht“, hallt die Stimme des Kardinals durch das Kirchenschiff. Neben ihm prangt das Kreuz der JVA Stadelheim, gerade so, als ob es durch seine Symbolkraft die Worte des Erzbischofs unterstreichen soll. Es ist das Kreuz aus der „Arme-Sünder-Zelle“, in dem Sophie Scholl die letzten Stunden vor ihrem Tod verbrachte.
Ehrenamt gegen das Vergessen
Helga Pfoertner steht vor einer blauen Informationstafel in der Gedenkstätte Weiße Rose in der Ludwig-Maximilian-Universität. Die 67-Jährige Lehrerin arbeitet hier einmal in der Woche ehrenamtlich. Wenn sie vor Besuchern über den Nationalsozialismus spricht, klingt das nicht nach notwendiger Empörung sondern tiefer und ehrlicher Abscheu. „Wie konnten die Menschen nur so tief sinken, die hatten doch auch Bildung“, sagt sie. Immer wieder tröpfeln Besucher in den Ausstellungsraum. Auf ihrem Stuhl sitzt Pfoertner nie. Immer ist sie unterwegs, erklärt und beantwortet Fragen. Ihre Mission: Junge Menschen aufklären, damit die sich nicht so schnell verführen lassen. „Wir sind einfach verpflichtet, das weiterzutragen“, sagt sie, begleitet die Besucher in den Lichthof, um zu zeigen, wo die Flugblätter vor 75 Jahren herabregneten.
Besucher mischen sich mit Studenten, die am Ende des Semesters mit Lernunterlagen auf dem Schoß auf den Treppenstufen des historischen Orts sitzen. Wichtig sei die Botschaft, die von der „Weißen Rose“ausgehe, sagt Marc Bäulke, der hier auf Lehramt studiert. Nämlich „dass man Autoritäten anzweifeln muss und dass man auch heute aufpasst, dass bestimmte Gruppierungen nicht an die Macht kommen“. „Es ist schon lange her, aber es fühlt sich von daher gut an, dass man weiß, irgendjemand hat versucht, etwas an den damaligen Zuständen zu ändern“, sagt Thomas Licht, Student der Volkswirtschaft. Wenn man vergesse, was passiert ist, könne es passieren, dass es wieder so weit kommt.
Der Widerstand der „Weißen Rose“steht heute für Zivilcourage, Mut und Heldentum in einer der dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte. Vor allem die Geschwister Scholl stechen aus den vielen Namen der Beteiligten hervor – auch weil die Schwester Inge Scholl über Jahrzehnte die Interpretation der Geschichte prägte.
Auch für Anne-Barb Hertkorn ist die Erinnerung an den Widerstand wichtig. Sie ist Mitglied des WeißeRose-Instituts in München, das sich zum einen für das Gedenken einsetzt und zum anderen die Aufarbeitung der Nachlässe von den Weiße-RoseMitgliedern fördert. „Eine Gegenwart und eine Zukunft kann man nur gestalten, wenn man aus der Vergangenheit lernt“, sagt sie. Doch die Art und Weise wie sich die Deutung der Widerstandsgruppe entwickelt hat, sieht sie kritisch.
Sie wollten keine Helden sein
„Für die Angehörigen der ,Weißen Rose’, war immer wichtig, dass sie nicht heroisiert werden“, erklärt Hertkorn. „Das waren junge Menschen, die einfach versucht haben, ein selbstbestimmtes Leben zu leben und haben dann aber im entscheidenden Moment nicht gekniffen.“In der Vergangenheit sei das Erbe der „Weißen Rose“von Gesellschaft und Politik instrumentalisiert worden. Bei der Darstellung der den Märtyrertod gestorbenen Helden sieht Hertkorn vor allem ein Problem: Sie werden unerreichbar. „Man sollte das Gedenken nicht so formulieren, dass sich daraus eine unüberwindbare Distanz ergibt. Es muss deutlich werden, dass jeder etwas tun kann“, sagt Hertkorn. Auch die Fokussierung auf einzelne Mitglieder sieht Hertkorn kritisch. „Sophie Scholl ist zur Ikone geworden, den Widerstand haben andere gemacht“, sagt Hertkorn.
2001 fuhr ein 7,5-Tonnen-Lastwagen in Rotis bei Leutkirch vor. Hier lebte Inge Aicher-Scholl, das älteste Kind der Familie Scholl. Sie verwaltete bis zu ihrem Tod 1998 den Nachlass ihrer Geschwister. Diesen holten die Mitarbeiter des Zeithistorischen Instituts ab und brachten Tagebücher, Briefe und Fotos zur Archivierung nach München. „Das war ein großer Tag für das Archiv, ein Quellenmaterial in dieser Fülle zu erhalten“, sagt Alexander Markus Klotz, der die Nachlässe heute betreut. Mehr als ein Jahr habe es gedauert, die Archivalien zu verzeichnen. Seitdem sind Historiker damit beschäftigt, die rund 50 Regalmeter an Beständen aufzuarbeiten. Vor allem das Bild Sophie Scholls habe sich verändert. „Bei aller Wertschätzung, da gab es auch noch andere“, sagt Klotz. Vor allem den Weiße-Rose-Mitgliedern Alexander Schmorell und Christoph Probst wird heute eine deutlich gewichtigere Rolle zugeschrieben. „Da gibt es noch viel zu tun“, sagt der Archivar.