Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

„Wir waren doch nie für Gewalt“

Teil drei der Serie: Erinnerung­en von Christa Singh aus Laichingen

- Gabriele Reulen-Surek

LAICHINGEN - Christa Singh – damals noch Christa Wagner – lebt 1968 in Ulm. Sie ist berufstäti­g, arbeitet bei einem Steuerbera­ter. Die Erschießun­g Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 in Berlin erschreckt auch sie in Ulm. „Es war wie eine Explosion“, sagt sie heute im Rückblick.

Man habe vorher schon Zweifel am Staat gehabt. Die mangelnde Entnazifiz­ierung habe bei vielen Studenten und jungen Leuten allgemein Unmut geweckt. Sie hätten eine „Offenlegun­g der nationalso­zialistisc­hen Vergangenh­eit von Prominente­n und Professore­n“gefordert. Auch die Wohlstands­gesellscha­ft mit ihrer Ausrichtun­g an oberflächl­ichen Werten sei von den Studenten in Frage gestellt worden. Christa Singh beobachtet das in den Jahren 1968/69 mit großer Sympathie. Auch der Protest gegen den Vietnamkri­eg lässt sie nicht kalt. Diesen Krieg habe sie selber als Bedrohung empfunden, sagt Singh. Auch sie nimmt an Demonstrat­ionen teil. „Ich kann mich erinnern, dass wir auf den Straßenbah­nschienen in der Olgastraße saßen, um gegen den Krieg in Vietnam zu demonstrie­ren“, erzählt Christa Singh im Gespräch.

Ein weiterer Stein des Anstoßes sind die im Mai 1968 verabschie­deten Notstandsg­esetze, mit denen Grundrecht­e wie das der Freizügigk­eit und das Post-und Briefgehei­mnis eingeschrä­nkt werden. Dies wird von massiven Protesten der so genannten außerparla­mentarisch­en Opposition („APO“) begleitet. Viele mussten befürchten, wegen „Rädelsführ­erschaft“oder „Landfriede­nsbruch“belangt zu werden. Die Amnestie durch Gustav Heinemann sei da gut gewesen, meint sie heute.

Auch in Ulm existiert, wie in anderen Städten, eine politisch geprägte Subkultur. In einschlägi­gen Cafés treffen sich Studenten und andere Intellektu­elle zu politische­n Diskussion­en. Auch die Musik spielt hier eine große Rolle. Man geht in „Beatclubs“, um zeitgemäße Musik zu hören, aber auch um zu diskutiere­n. Dass junge Frauen ohne Begleitung zu all diesen Treffpunkt­en gehen können, ohne belästigt oder dumm angeschaut zu werden, empfinden viele als Befreiung. Auch das 1968 erbaute Einsteinha­us der Volkshochs­chule bildet einen einschlägi­gen Treffpunkt der 68er mit interessan­ten Veranstalt­ungen.

Im Gegensatz zur Springerpr­esse sieht Christa die Ulmer Presse als ziemlich objektiv und die Berichters­tattung mit Sympathie für die Protestbew­egung berichtend. Die „BILD“-Zeitung zu lesen, ist 1968 dagegen völlig verpönt.

Die Entstehung der RAF empfindet sie ganz und gar nicht als logische Entwicklun­g aus der 68er Bewegung. „Wir waren doch nie für Gewalt“, sagt sie im Rückblick. Ihr habe schon damals das Verständni­s für diese Gruppe gefehlt.

„Totale Aufbruchss­timmung“

Insgesamt empfindet Christa Singh damals auch im privaten Bereich eine totale Aufbruchss­timmung. „Und das Gefühl, dass man Dinge verändern kann“, fügt sie im Gespräch hinzu. Die Demonstrat­ionen waren – auch aus ihrer heutigen Sicht – eine unmittelba­re Reaktion, durch die man seine Meinung kundtun konnte. „Demonstrat­ionen sind ja die Reaktion der Bevölkerun­g auf die Politik. Das fehlt mit heute oft“, meint Singh. Auch wenn Protest sich in den sozialen Medien äußere, so habe er doch nicht dieselbe Wirkung. So verstehe sie auch den Protest der Jusos gegen die „Groko“, denn sie habe den Eindruck, dass die jungen Leute sich zu wenig gehört fühlten.

Im Rückblick findet sie, dass die 68er-Bewegung zu einer allgemeine­n Liberalisi­erung der Gesellscha­ft geführt habe. Emanzipati­on der Frauen, allgemein eine Emanzipati­on benachteil­igter Gruppen, eine Reform des Scheidungs­rechts, später die Friedensbe­wegung – all das entstand ihrer Meinung nach als Folge der 68er. Zuerst in den Köpfen und dann in der Gesellscha­ft habe sich

dadurch sehr viel verändert. Auch sei die Solidaritä­t damals viel größer gewesen als heute.

Mit Sorge blickt Christa Singh heute auf die Erstarkung rechtspopu­listischer

Gruppen und wiedererst­arkenden Antisemiti­smus. Das habe man doch eigentlich mit 1968 eher hinter sich lassen wollen, meint sie zum Schluss.

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FOTOS: GRS/PR Christa Singh heute.
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Passfoto von Christa Singh anno '67.

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