Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Im Bauch der deutschen Geschichte
Das Gedächtnis der Deutschen lagert in einem Berg im Schwarzwald, geschützt vor Atomkatastrophen, Kriegen und Terrorismus
OBERRIED (tbb) - Nur eine relativ unscheinbare Tür trennt die Außenwelt vom bedeutendsten Archiv der Bundesrepublik Deutschland: Im Barbarastollen, der Teil des Schauinsland im Schwarzwald bei Freiburg ist, lagern auf Mikrofilm gebannt mehr als eine Milliarde Dokumente. Das kulturelle und geschichtliche Erbe Deutschlands, konserviert für die Nachwelt. Das Material soll mindestens 500 Jahre haltbar sein.
OBERRIED - Ausgerechnet als Papst Benedikt XVI. im Jahr 2011 in Freiburg zu Besuch ist, heulen die Alarmsirenen. Die Polizei muss sich schnell entscheiden, ob sie Beamte in das 15 Kilometer entfernte Dorf Oberried schickt und damit die eh schon angespannte Personalsituation in Freiburg noch verschärft – oder nicht. Sie entscheidet sich für das Dorf. Ihr Ziel ist eines der wenigen Objekte weltweit, das seit 40 Jahren unter dem höchsten verfügbaren, kulturellen Sonderschutz der Unesco steht.
Rund 700 Meter tief im Berg lagert dort das Gedächtnis der Deutschen. Fein säuberlich aufgereiht in mehr als 1500 Edelstahltonnen. Ein Archiv für die Ewigkeit, für die Menschen der Zukunft – und für drei Millionen Euro im Jahr.
Ortsbesuch: Das Grün des Schwarzwalds verschwimmt langsam zu einem hellen Fleck und schließlich zu einem kleinen Kreis. Mit jedem Schritt in den Berg hinein wird es kühler. Kellergeruch steigt in die Nase, der orangefarbene Sicherheitshelm zwickt an der Stirn. Zwei Gittertüren, eine schwere Panzertür mit beheiztem Zahlenschloss und zwei Drucktüren geben schließlich den Blick frei auf einen ungewöhnlichen Schatz. In zwei Stollen lagern in etwa 80 Zentimeter hohen Metalltonnen bedeutsame Aufzeichnungen deutscher Geschichte. Nicht im Original, sondern in Schwarz-Weiß auf Mikrofilm gebannt.
Granit als natürlicher Schutz
Hitlers Ernennungsurkunde, eine Urkunde von Kaiser Karl dem Großen, Handschriften von Johann Sebastian Bach oder auch die Originalfassung des Grundgesetzes. Der Barbarastollen, der „zentrale Bergungsort der Bundesrepublik Deutschland“, ist voll davon. Freiburgs Hausberg Schauinsland mit seinem Gneis und Granit soll das kulturelle Erbe der Deutschen sicher vor Erdbeben, Atomkriegen und Wetterphänomenen machen. Mindestens 500 Jahre lang. Es ist ein ungewöhnliches Projekt, das das Bundesamt für Bevölkerungs- und Katastrophenschutz (BBK) an dieser Stelle betreibt. Für Bernhard Preuss, den Beauftragten des BBK für Kulturgutschutz nach der Haager Konvention, geht es um nichts anderes, als die Archivierung der Historie Deutschlands. „Die Deutschen gehen besonders mit ihrer Geschichte um“, sagt er. Deutschland sei das Land der Dichter und Denker, aber auch das Land des Nationalsozialismus – was das außergewöhnliche Sammelverhalten ein Stück weit erkläre. Alles was sich auf damaliges oder heutiges deutsches Staatsgebiet bezieht, kommt in Betracht.
Zunächst ein Staatsgeheimnis
In den 1960er-Jahren haben die Deutschen angefangen mit der sogenannten Sicherungsverfilmung, ab 1975 wurden die Kopien eingelagert. Möglichst weit weg vom „Feind“. Weil sich die Gegend geologisch besonders gut eignete, wurde dafür der Barbarastollen ausgewählt. Dieser sollte um 1920 herum eigentlich ein Abraumstollen für Silber und Erz werden. Aber das Bergwerksunternehmen ging pleite und die Bundesrepublik nistete sich in Oberried ein. Freilich war das Ganze zunächst streng geheim, ein richtiges Staatsgeheimnis. Angeblich wussten nicht einmal die Menschen im Ort, was in den silbernen Zylindern in den Berg gebracht wurde. Seit 40 Jahren, vom 24. April 1978 an, ist das aber ganz offiziell bekannt und seither steht der Barbarastollen auch unter dem Sonderschutz nach der Haager Konvention.
„Mit der Konvention von 1954 wurde die Zerstörung von Kulturgütern in Kriegen international verurteilt“, so das BBK. Die Unterzeichnerstaaten müssen seither auch in Friedenszeiten für Kulturgutschutz vorsorgen. In Deutschland geschieht das unter anderem mit der Archivierung und Einlagerung von historischen Aufzeichnungen. Abfotografierte Bücher sucht man in dem Stollen aber vergebens. „Bücher gibt es zu Tausenden“, sagt der Archiv-Chef Bernhard Preuss. Deshalb konzentriere man sich bei der Einlagerung auf handschriftliche Dokumente, Aktenvermerke oder Urkunden und ihre Entstehungsgeschichte, sagt er. Aber es gibt Ausnahmen: Goethes Faust ist zum Beispiel als abfotografiertes Buch eingelagert, gibt Preuss zu. Was es aber besonders macht, sind die handschriftlichen Kommentare von Johann Wolfgang von Goethe selbst. Wenn es irgendwann um die Archivierung der vergangenen Wahl von Angela Merkel zur Kanzlerin geht, dann würde nicht nur die Ernennungsurkunde, sondern auch der Weg dahin mit den dazugehörenden Akten archiviert, erklärt BBKPressesprecherin Marianne Suntrup. „In 500 Jahren wollen die Menschen vielleicht auch etwas über unsere Verwaltung wissen“, sagt sie. Das bislang jüngste Dokument im Stollen ist etwa 70 Jahre alt. „Natürlich ist hier auch viel Unspektakuläres dabei, wir müssen stark selektieren“, sagt Bernhard Preuss. Für die Auswahl der einzulagernden Dokumente sind die Bundesländer verantwortlich. Jedes Jahr kommen 20 bis 40 Millionen Aufnahmen dazu.
Unter den mehr als einer Milliarde Aufnahmen sind auch Dokumente aus der Region eingelagert. Die Abteilung Staatsarchiv Sigmaringen des Landesarchivs Baden-Württemberg hat zum Beispiel in den 1980erJahren eine Urkunde aus dem Jahr 1500 sicherungsverfilmt. Unter der Filmnummer S 2913 und der Stanznummer 11 234 ist sie im Barbarastollen zu finden. In dem Bestand „Deutschordensherrschaft Achberg: Urkunden“, geht es um einen gelösten Streit. Wörtlich heißt es: „Bürgermeister und Rat der Stadt Lindau (Lindow) legen die Streitigkeiten, die sie mit Johann von Königsegg (Kungsegk) zu Achberg, Ritter, Vogt zu Feldkirch (Veldkirch), wegen der Niedergerichte zu Pechtensweiler (Ober Berchtenswiler) gehabt haben, gütlich bei.“So ist auch diese Information sicher verwahrt für die Menschen der Zukunft.
Lagerung bei zehn Grad
Mindestens 500 Jahre lang sollen die 35 Millimeter breiten Polyesterfilme lesbar sein. Damit das auch so bleibt, werden die Filme aneinandergeschweißt, auf eine Länge von bis zu 1300 Metern. Anschließend werden sie aufgerollt, gestapelt und in den Einlagerungsbehälter gelegt. Zusammen mit einem ebenfalls auf Film gebannten Inhaltsverzeichnis, dem sogenannten Findbuch. Vier Wochen lang werden die Filmrollen auf die Bedingungen im Berg vorbereitet – bei zehn Grad Celsius und 35 Prozent relativer Luftfeuchtigkeit. Schließlich werden die Tonnen verschlossen. Nur mit Schrauben allerdings, denn wer weiß, wer in der Zukunft einmal an die Dokumente ran muss, sagt Suntrup. Im Anschluss bringen Arbeiter die Rollen in den Berg. Um zu sehen, wie sich die Filme im Laufe der Zeit entwickeln, wurden einige Tonnen testweise auch schon wieder geöffnet – mit gutem Ergebnis: „Wir gehen heute sogar davon aus, dass die Filme länger als 500 Jahre halten werden“, sagt Suntrup. Zum Vergleich: Vor rund 500 Jahren hat Martin Luther seine 95 Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg genagelt.
Die beiden Lagerstollen in Oberried sind hell erleuchtet. Sie wirken eher wie ein kleiner Flugzeughangar als ein Bergwerksstollen. Auf zwei Reihen in langen Regalen stehen die silbernen Tonnen dicht aneinandergereiht, von Gabelstaplern in den Berg gefahren. Außer einer Nummer ist nichts auf den Tonnen vermerkt.
Die klassische Archivierung ergibt für das BBK Sinn. Die Experten setzen auf Film – obwohl die Digitalisierung ganzer Bibliotheksbestände voranschreitet und scheinbar unbegrenzter Platz im Internet herrscht. Der Grund: Um digitale Daten lesen zu können, brauche es Server, auf denen die Daten gespeichert sind, Computer, die Nullen und Einsen umrechnen können und Bildschirme zur Darstellung. Das alles kostet Geld und ist fehleranfällig. „Für Mikrofilm braucht man lediglich etwas Licht und eine Lupe. Aber dafür kann man auch ein Stück Glas nehmen. Wer weiß, was die Menschen in der Zukunft zur Verfügung haben“, sagt Suntrup.
Der Bund stellt jährlich drei Millionen Euro für die Sicherheitsverfilmung und die Einlagerung zur Verfügung, so das BBK. Die meisten Kosten verursache dabei das Abfotografieren selbst. Über den Sinn und Unsinn dieser Art der Archivierung ist in der Vergangenheit auch schon gestritten worden. „In Friedenszeiten wird häufig nach der Notwendigkeit gefragt“, sagt Suntrup. Nachdem aber 2009 das Stadtarchiv Köln eingestürzt ist, halte sich die Kritik in Grenzen. Denn weil Köln bei der Sicherungsverfilmung eigene Kopien anfertigte, sind etliche historische Dokumente für die Nachwelt erhalten geblieben. Und hätte es diese Kopien in Köln nicht gegeben, dann wären die entsprechenden Tonnen aus dem Stollen ausgelagert worden.
Sperrgebiet für das Militär
Obwohl das BBK mit seinem Stollen die Öffentlichkeit sucht, ist die Anlage besonders geschützt. Das dreifache blau-weiße Kulturgutschutzzeichen an der Anlage ist einmalig in Deutschland. Laut BBK sind in Europa lediglich Teile des Vatikans sowie drei Orte in den Niederlanden mit diesem Schutz ausgestattet. Die Vorgaben für das Zeichen: In der Nähe darf kein wichtiges militärisches Ziel liegen, wie zum Beispiel eine Industrieanlage oder ein Rundfunksender. Außerdem darf sich kein Militärfahrzeug in einem Umkreis von fünf Kilometern dem Stollen nähern und auch Überfliegen ist für das Militär nicht erlaubt. „Ich habe auch schon Anfragen für Flugübungen der Bundeswehr absagen müssen“, sagt Bernhard Preuss. „Die waren nicht froh darüber.“Auch andere Länder archivieren ihr Kulturgut, schätzt der Stollen-Chef. So offensiv wie die Deutschen, geht aber kein anderer damit um. „Die Amerikaner machen das garantiert – aber streng geheim, nehme ich an“, sagt er.
Das künstliche Licht der Neonlampe und der feuchte Kellergeruch des Barbarastollens verschwinden langsam im Berg. Mit jedem Schritt wird es wieder wärmer und das Grün des Schwarzwalds erscheint langsam im Tageslicht. Draußen angekommen versperrt nun wieder ein unscheinbares Eisengitter den Zutritt zum Stollen, den Lagerräumen, den Tonnen und den Aufzeichnungen für die Nachwelt. Bis auf drei ausgeblichene blau-weiße Schutzzeichen, die in den Boden eingelassen sind, gibt es keine Anhaltspunkte, was für eine Schatzkammer sich im Barbarastollen in Oberried verbirgt. Wäre da nicht die Mitarbeiterin des Wachdienstes, die auf der Anhöhe geparkt hat. Das Unternehmen kontrolliert den Stollen einmal pro Tag bei einem Rundgang, Kameras und Bewegungsmelder überwachen die Anlage zusätzlich und auch die Polizei war schon vor Ort. Bislang aber nur wegen Fehlalarmen. Wie damals, während des Papstbesuches. Ausgelöst übrigens von einer kleinen Maus, die es durch die Gitter geschafft hat.
„Die Deutschen gehen besonders mit ihrer Geschichte um.“Bernhard Preuss, Leiter und Hüter des Barbarastollens