Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Russland feiert seine Weltmeister der Herzen
Beim Gastgeber überwiegt nach der bitteren Niederlage der Stolz – Kroatien bereit für England
MOSKAU (SID) - Bei der gigantischen Abschiedsparty trockneten am Sonntag auch die letzten Tränen. Tausende Fans bereiteten Russlands Helden 18 Stunden nach dem bitteren Aus bei der Heim-WM einen berauschenden Empfang in Moskau, Trainer Stanislaw Tschertschessow und seine Spieler wurden wie Popstars gefeiert. Während das Team den Anhängern ein Banner mit der Aufschrift „Wir haben für euch gespielt“entgegenstreckte, sangen diese inbrünstig die Nationalhymne.
Der WM-Traum ist zwar vorbei, doch ganz Russland liebt seine Weltmeister der Herzen. Schon in der Nacht hatten auf der Nikolskaya, der riesigen Partymeile im Zentrum der Hauptstadt, und im ganzen Land die Fans trotz des bitteren K.o.-Schlags gegen Kroatien wie wild gefeiert. Schnell überwog der Stolz auf die bärenstarke Sbornaja und eine märchenhafte Endrunde.
Etwa eine Stunde nach der 3:4Niederlage im Elfmeter-Krimi gegen Kroatien war ein körperlich und mental völlig erschöpfter Tschertschessow wie ein schwer geschlagener Boxer vor die Presse getreten. Der Nationaltrainer, der weltweit zum Gesicht des wehrhaften Außenseiters geworden war, tat sich am schwersten, den Frust abzustreifen.
Selbst ein Anruf von Präsident Wladimir Putin, der nicht zum Spiel gereist war, konnte Tschertschessow zunächst nicht aufrichten. „Ich habe ihm gesagt, dass wir sehr enttäuscht sind“, sagte der Trainer: „Wir hoffen, dass wir in Zukunft noch einen Schritt weiter gehen können.“
Premierminister Dimitri Medwedew war überzeugt, Zeuge einer Zeitenwende geworden zu sein. Der russische Fußball werde nie wieder „sein enttäuschendes altes Selbst“zeigen. Ob Tschertschessow die vermeintliche neue Ära des russischen Fußballs weiter prägen wird, ist offen. „Es ist nicht vorhersagbar, ob ich bleibe oder nicht, wir werden erst mal nicht nach vorne schauen“, sagte der 54-Jährige: „Wir müssen alles sorgfältig analysieren.“
Allenfalls Fedor Smolow bekam sein Fett weg. Nachdem Russland in einer nervenaufreibenden Verlängerung durch Domagoj Vida zunächst das 1:2 kassiert (101.) und dann doch noch durch den eingebürgerten Brasilianer Mario Fernandes ausgeglichen hatte (115.), vergab Smolow den ersten Elfmeter mit einem überheblichen Lupfer. Trotzdem herrschte grundsätzliche Jubelpflicht.
Kroatien fehlt „die Kraft“
Dass nun allerdings tatsächlich die Zukunft des russischen Fußballs golden leuchtet, darf bezweifelt werden. Auch gegen die Kroaten war die Sbornaja wie schon im Achtelfinale gegen Spanien, spielerisch klar unterlegen. Vor allem dank ihres Kampfgeistes und eines fast unglaublichen Laufvermögens, das Anti-Doping-Experten mit Argwohn beäugen, konnten die Russen mithalten, liefen gegen Kroatien neun Kilometer mehr als der Gegner.
Die siegreichen Kroaten dagegen sind nun selig, tanzten auf dem Festbankett auf den Tischen. „Es macht uns extrem stolz, dass wir es nach 20 Jahren wieder ins Halbfinale geschafft
haben“, sagte Mittelfeldlenker Luka Modric. Doch Schluss soll da keinesfalls sein. „Natürlich haben wir noch Kraft für die Engländer. Es wird wieder eine Schlacht, aber ich glaube an uns“, sagte Nationaltrainer Zlatko Dalic. Der 51-Jährige weiß, was seine Mannschaft leisten kann, auch wenn es gegen Russland im Angriff noch ordentlich rumpelte. Laut Modric habe nach den harten letzten Spielen „die Kraft gefehlt“. Doch nun gibt es nur ein Ziel: Das Finale am kommenden Sonntag in Moskau.