Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Schwitzen statt schwänzen
Sind ertappte Schüler an Flughäfen nur die Spitze des Eisbergs? Wie verbreitet vorgezogene Schummelferien wirklich sind
Notfalls muss man halt die Oma über die Klinge springen lassen oder – etwas humaner – der Onkel muss einen runden Geburtstag feiern, dann klappt’s auch mit der Unterrichtsbefreiung: „Manchmal sind es ganz klar Ausreden, mit denen Eltern versuchen, ihre Kinder ein paar Tage früher, also vor den eigentlichen Ferien, vom Unterricht beurlauben zu lassen.“Die Dame aus dem Sekretariat am anderen Ende des Telefonhörers weiß, wovon sie spricht. Denn sie arbeitet seit Jahrzehnten an einer Schule in der Bodenseeregion und damit an einem Ort, an dem andere Eltern mit Kindern aus nördlicheren Bundesländern längst Urlaub machen, während hiesige Schülerinnen und Schüler noch sehnsuchtsvoll durch die geschlossenen Scheiben ihrer Klassenzimmerfenster starren und im Lichte des Kaiserwetters schwitzen.
„Aber das muss ich schon sagen“, flüstert die Schulsekretärin, „das sind ganz klar Einzelfälle“, sie könne sich nicht mal genau erinnern, wann Eltern an ihrer Schule zuletzt eine offensichtlich fadenscheinige Ausrede aufgetischt hätten. In Schulkreisen habe man den Kopf geschüttelt, welche Wellen es geschlagen hat, als zu Beginn der Pfingstferien in allen Zeitungen stand, wie bayerische Polizisten an den Flughäfen Memmingen und Nürnberg bei Kontrollen 20 Schüler samt Eltern dabei ertappten, wie sie trotz Unterricht unentschuldigt in den Süden aufbrechen wollten. Ganze 20.
Polizeisprecher Florian Wallner vom zuständigen Präsidium Schwaben Süd-West in Kempten ist es ebenfalls schleierhaft, wie im Frühsommer der Eindruck eines überhaupt relevanten Phänomens des Schulschwänzens vor den Ferien entstanden sei. Manches Medium hat sogar spekuliert, dass womöglich der neue Ministerpräsident Markus Söder (CSU) persönlich hinter den Kontrollen an den Flughäfen stecke, um damit ein Zeichen zu setzen, dass in Bayern Zucht und Ordnung herrschen. Nur: „Das waren damals gar keine Schwerpunktkontrollen. Die Kollegen vor Ort an den Flughäfen handeln nach Eigeninitiative“, betont Wallner. So habe die Landespolizei bei ganz gewöhnlichen Ausreisekontrollen eben festgestellt, dass die Familien mit ihren betreffenden Kindern während der Schulzeit und ohne hinreichende Entschuldigung am Flughafen waren. „Nicht mehr und nicht weniger.“Beamte in ganz Bayern stellten im Rahmen ihrer normalen polizeilichen Arbeit immer wieder gelegentlich Schulschwänzer fest, die sich zur Unterrichtszeit herumtreiben. Darauf ein Auge zu haben, sei vollkommen normal. Schließlich könne das Blaumachen auch ein Zeichen für schwerwiegendere Probleme in einer Familie sein.
Die Polizei winkt ab
In Baden-Württemberg ist die Bundespolizei an Flughäfen zuständig, zum Beispiel in Friedrichshafen. Stippvisite in der Abflughalle an einem frühsommerlich-heißen Tag: Geschäftsleute verlieren sich eifrig telefonierend zwischen Café und Flugschalter. Rentner reihen sich in Urlaubsabsicht an einem der Schalter. Ziel: Türkische Riviera. Kinder im schulpflichtigen Alter sind keine zu sehen. Es dauert ein Weilchen, bis ein Polizeibeamter vom Flughafenposten gefunden ist. Er sagt: „Schwerpunktkontrollen vor den Ferien? Nein, das gibt es bei uns nicht.“Weitere Fragen beantworte das zuständige Präsidium in Konstanz. Der Polizeisprecher dort bestätigt der „Schwäbischen Zeitung“das, was der Kollege am Bodenseeairport schon gesagt hatte: „Fakt ist, dass keine gezielten Kontrollen durchgeführt werden.“Folgerichtig müsse die Frage auch unbeantwortet bleiben, wie viele Schulschwänzer an Baden-Württembergs Flughäfen gestellt würden.
Natürlich ist der Schulstress in greifbarer Nähe der Sommerferien längst abgeflaut. Motivation und Stimmung seien bei einem Sommer, der wettermäßig gefühlt schon seit Ende März andauert, trotz der Sonne etwas unterkühlt. Die Elternbeirätin einer Grundschule sagt hinter vorgehaltener Hand: „Die machen ja auch wochenlang vor den Ferien nichts Gescheites mehr im Unterricht.“Die Noten seien längst unter Dach und Fach, Ausflüge an der Tagesordnung. Es sei nachvollziehbar, wenn Eltern zumindest aus Sicht des Lehrstoffs kein besonders schlechtes Gewissen entwickelten, sollten sie kurz vor den Ferien auf die Idee kommen, ein bisschen zu mogeln. „Viel zu versäumen gibt es kurz vor den Sommerferien jedenfalls nicht mehr“, sagt die Mutter aus dem Elternbeirat. Und doch sind die Vorgaben der Kultusministerien in Baden-Württemberg und Bayern in der Frage glasklar: Schule ist Schule, und Ferien sind Ferien.
Das wissen auch die Leiterinnen und Leiter folgender Schulen, etwa Mark Overhage: „Bei uns am AlbertEinstein-Gymnasium in Ravensburg kennen wir das Phänomen so gut wie gar nicht. Auch Krankmeldungen nehmen zum Schuljahresende nicht zu.“Das liege womöglich auch daran, dass in Ravensburg unmittelbar vor Ferienbeginn das Rutenfest stattfindet. Der Rektor des Bildungszentrums Parkschule Kressbronn, Reinhard Großmüller, winkt ebenfalls ab und sagt: „Manchmal gibt es berechtigte Gründe für eine Beurlaubung – etwa Familienfeiern oder Ähnliches. Da kann unter Umständen beurlaubt werden.“Das stehe aber nicht im Zusammenhang mit den Ferien. „Wir haben immer um Ehrlichkeit gebeten, denn was würden wir den Kindern da vorleben, wegen einer Beurlaubung etwas zu erfinden“, stellt Großmüller klar. Und Sonja Albersmann-Neher, Leiterin der Grundschule Hoyren in Lindau, bestätigt: „Eltern gehen sehr verantwortungsvoll mit Anträgen zur Beurlaubung um.“Auch sie stelle im Zusammenhang mit den nahenden Ferien weder vermehrt solche Anträge noch gehäufte Krankheitsfälle fest.
Klaus Moosmann schließlich, der Leiter des Staatlichen Schulamtes in Markdorf, zuständig für jede Menge Schulen der Landkreise Ravensburg und Bodenseekreis, sagt: „Es gibt die Schulpflicht und in der Regel keine Ausnahmen.“Das werde immer wieder mal mit den Schulleitern besprochen, aber: „Das Fernbleiben vom Unterricht ist ein punktuelles Problem und ganz sicher kein Massenphänomen, sodass man nicht jedes Jahr darüber sprechen muss.“
Und in den Reisebüros? Dort laufen die Fäden der meisten Urlaubsbuchungen zusammen. Wird fleißig außerhalb der Ferienzeit auch für und mit Schülern gebucht? Lohnt sich das überhaupt? „Pauschal kann ich das so nicht sagen“, erklärt Isabel Höninger, Chefin des Reisebüros Frommlet in Ravensburg. Manchmal sei der Preisunterschied gering – schließlich bedeute Sommer insgesamt Hochsaison – in anderen Fällen könne es aber bei einer Familie schon ein paar Hundert Euro ausmachen. „Trotzdem habe ich nicht das Gefühl, dass viele Eltern ohne Genehmigung der Schule bewusst früher buchen.“
Und was passiert – wie vor den Pfingstferien geschehen – wenn Schulschwänzer tatsächlich kurz vor dem Abheben am Flughafen von der Polizei erwischt werden? Theoretisch sind je nach Bundesland und Landkreis Bußgelder von bis zu 1000 Euro pro Tag möglich. Theoretisch. Denn in der Praxis – das zeigt auch das Beispiel des Airports Memmingen zu Pfingsten – passiert nichts allzu Dramatisches. Florian Wallner vom Polizeipräsidium Kempten: „Wir wissen lediglich von einem Bußgeldverfahren in Kaufbeuren.“Das bedeute aber nicht, dass in den restlichen neun Fällen, die in Memmingen festgestellt wurden, nichts geschehen sei. Die Informationen über mögliche Verfahren gingen nicht automatisch zurück ans Polizeipräsidium. „Außerdem sind gegen Bußgeldbescheide Einsprüche möglich“, gibt Wallner zu bedenken, sodass es durchaus sein könne, dass eingeleitete Verfahren erst viel später abgeschlossen würden.
Kein Massenphänomen
Das theoretisch zur Verfügung stehende Mittel, Schüler vom Fleck weg in den Unterricht zu bringen – und damit den ganzen Familienurlaub platzen zu lassen – hat die Polizei jedenfalls nicht ergriffen. Dem steht auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei Ordnungswidrigkeiten gegenüber. Eine Reise behördlicherseits abzubrechen und somit mehrere Tausend Euro Schaden für die Familie zu bereiten, ganz abgesehen von entgangenen Ferienfreuden, scheint auch nicht angemessen. Zumal bei einem Phänomen, das trotz der aufgeregten Medienberichterstattung von damals offenbar nur Seltenheitswert hat.
Übrigens: Auf Nachfrage der „Schwäbischen Zeitung“in Kaufbeuren teilt eine Sprecherin mit, dass sich die Höhe des Bußgeldes im konkreten Fall einer geschnappten Familie am Memminger Flughafen auf einen „niedrigen dreistelligen Betrag“beläuft. Die Untergrenze eines Bußgeldbescheids für Schulschwänzen liege in der Allgäustadt bei 70 Euro. Ungefähr der Gegenwert von knapp einem Dutzend Eisbecher. Und damit genau die richtige Dosis, um die ehedem hitzig geführte Schulschwänzerdebatte herunterzukühlen.
„Das waren damals gar keine Schwerpunktkontrollen.“Polizeisprecher Florian Wallner über die ertappten Schüler vor Pfingsten