Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Opferanwalt klagt Behörden an
Ein Kind zu schütteln bedeutet, dessen Leben aufs Spiel zu setzen – Warum passiert das immer wieder?
ROTTWEIL (sz) - Im Mordfall Villingendorf hat der Rechtsanwalt Wido Fischer Anzeige gegen das Polizeipräsidium Tuttlingen sowie die Landratsämter Rottweil und Tuttlingen erstattet. Nach Fischers Überzeugung ist das Verhalten der Behörden ursächlich dafür, dass der zu lebenslanger Haft verurteilte Drazen D. den gemeinsamen Sohn, den neuen Freund seiner ehemaligen Partnerin sowie dessen Cousine in Villingendorf erschießen konnte.
RAVENSBURG - Zuerst genügt es der jungen Mutter noch, Schubladen zuzuknallen. Mit der geballten Faust gegen den Türstock zu hämmern. Sich selbst hart in die Schenkel zu boxen. Oder in den Handballen zu beißen. Aber die Aggression, die in ihrem Körper tobt, kommt dem Kind im Stubenwagen immer näher, das da liegt und immerzu brüllt. Egal was Natalie auch probiert. Jeder Schrei fühlt sich für sie an, als gieße jemand heißes Öl ins Feuer ihrer verzweifelten Hilflosigkeit, aus der ihr ganzer Körper zu bestehen scheint. Immer wieder hebt sie das Kind heraus, hält es in die Höhe, und der Drang, es endlich doch zu schütteln, es spüren zu lassen, dass es nun endlich, endlich still sein muss, wird so stark, dass ihr beim Ankämpfen gegen dieses diabolische Verlangen schwarz wird vor Augen. Denn sie weiß ja: „Das darf ich nicht tun. Es ist mein Kind. Ich liebe es, egal wie laut und lange es schreit. Es soll leben.“Und nicht für einen schwachen Moment seiner Mutter mit irreparablen Schäden bis hin zur schweren geistigen Behinderung bezahlen müssen.
Natalie, die nicht wirklich so heißt, hat gelernt, sich im Griff zu haben, nachdem sie schon einige Male an diesem gähnenden Abgrund der Verzweiflung gestanden hat. „Aber es war knapp“, sagt sie mit einem Zittern in der Stimme, und selbst durchs Telefon lässt sich hören, wie die 24Jährige dabei schlucken muss.
Immer wieder müssen sich Gerichte mit Menschen beschäftigen, die nicht die Kraft für den Weg gehabt haben, den Natalie gegangen ist. Menschen, die eine gefährliche Grenze überschritten haben. Deren Impulskontrolle so schwach ausgeprägt ist, dass sie ihre Kinder, ihr eigen Fleisch und Blut, schwer geschädigt haben. Bis hin zum Tod. Jüngster Fall: Memmingen. Das Landgericht verhängte über den 37 Jahre alten Vater eine Strafe von sechs Jahren Gefängnis, nachdem der Mann seinen Säugling derart geschüttelt hatte, dass das Kind blind und gelähmt sein wird für den Rest seines Lebens. Ein Pflegefall, noch bevor das Leben richtig begonnen hat.
„Im Grunde ist es ja ein Schüttelaffekt, Ausdruck von Hilflosigkeit“, erklärt Dagmar Neuburger. Die Sozialpädagogin arbeitet bei der Schwangeren- und Schwanger schafts konflikt beratungsstelle der Diakonischen Bezirks stelle Friedrichshafen. Entgegen der weit verbreiteten Annahme begleitet die Einrichtung Familien weit über die Schwangerschaft hinaus – wenn nötig bis zum dritten Lebensjahr des jüngsten Kindes .„ Damit solche Extrem situationen entstehen können, kommen oft verschiedene Faktoren zusammen“, weiß Dagmar Neuburger aus ihrer beruflichen Praxis: Erschöpfung, Überforderung, Übermüdung, Konflikte mit dem Partner oder das Fehlen eines Partners. Oder eine Suchtproblematik, Arbeitslosigkeit, beengte oder desolate Wohnverhältnisse.
Fragen, anrufen, um Hilfe bitten
„Meines Erachtens existiert in Friedrichshafen ein gutes Netz, um solchen Extremsituationen vorzubeugen“, sagt Dagmar Neuburger. Zum Beispiel erhalten alle Familien mit Neugeborenen in Friedrichshafen einen „Familienbesuch“– ein Angebot der Familienbeauftragten der Stadt in Kooperation mit dem Kinderschutzbund. „Ganz egal, wie der soziale Hintergrund ist. Egal ob arm oder reich.“Bereits die Hebammen wissen Rat in schwierigen Situationen und wo sich Hilfesuchende hinwenden können. Und in akuten Fällen? In Grenzsituationen, wie die junge Mutter Natalie sie erlebt hat? „Es gibt die Notfallnummer vom Jugendamt. Oder die Telefonseelsorge.“ Jedenfalls sei alles besser als sich dem Impuls der Gewalt auszuliefern, dem verheerenden Schütteln.
Als Andreas Artlich vor 17 Jahren von der Universitätskinderklinik Gießen an die Klinik für Kinder und Jugendliche im St. Elisabethen-Klinikum nach Ravensburg wechselte, da war der Begriff „Schütteltrauma“in Oberschwaben praktisch unbekannt. „Es war eine Rarität. Und das ist es jetzt nicht mehr. Das muss man ganz klar sagen“, erklärt der Mediziner trocken, der seither Chefarzt der Kinderklinik ist. Als Zeuge und Sachverständiger muss Artlich immer wieder vor Gericht als Gutachter auftreten, wenn es um die Misshandlung von Kindern geht. „Schütteltrauma ist ein Zeichen von sozialem Stress. Und damals war der Stress noch nicht so hoch.“
In seinem Arztzimmer liegt eine Puppe auf dem Besprechungstisch. Der Kindermediziner hebt sie mit beiden Händen an, umfasst den Brustkorb – und beginnt zu schütteln. Erst langsam, dann immer heftiger. Bei der Puppe sind es nur die künstlichen Haare und die Stoffgliedmaßen, die sich äußerlich bewegen. „Bei einem echten Säugling sieht man die Auswirkungen zunächst nicht“, erklärt Artlich. An der Hirnoberfläche verlaufen Blutgefäße, die mit der Innenseite des Schädelknochens verbunden sind. Das Gehirn schwimmt sozusagen im Kopf. Wird es heftig geschüttelt, können diese Blutgefäße reißen. „So ein Säugling kann ja den Kopf noch nicht selbständig halten. Dazu ist die Nackenmuskulatur noch zu schwach.“
Mitunter brechen auch Rippen
Aber auch ohne den Blick in den Schädel durch bildgebende Verfahren, können entsprechend ausgebildete Ärzte Hinweise auf ein Schütteltrauma oder andere körperliche Misshandlungen relativ sicher erkennen. Andreas Artlich: „Das Muster von blauen Flecken zum Beispiel. Manchmal sieht man die Daumenabdrücke im Brustbereich.“Mitunter brechen auch Rippen an bestimmten typischen Stellen, die bei Kleinkindunfällen üblicherweise nicht betroffen sind. „Da gehen bei uns die Alarmglocken los“, sagt Artlich, der sich wünscht, dass durch flächendeckende Schulungen von Ärzten und Pflegepersonal die Misshandlungen von Kindern verlässlich erkannt würden. Der Arzt glaubt, dass „es nach wie vor eine Dunkelziffer gibt“, und nennt ein weiteres Beispiel, während er den Arm hebt und mit dem Zeigefinger auf den Unterarm deutet: „Wenn ein Kind den Arm gebrochen hat an dieser Stelle, dann ist das eine sehr ungewöhnliche Bruchstelle.“ Artlich zieht den Arm weiter nach oben vor den Kopf – und sofort wird deutlich, warum geschulte Kräfte bei einer solchen Verletzung hellhörig werden. Sie kommt zustande, wenn Kinder bei Gewaltattacken die Arme instinktiv schützend hochreißen.
„Das Schütteltrauma ist nur eine – oft auch besonders schwere – Form der Kindesmisshandlung.“Im Einzugsgebiet der Klinik, verteilt auf die Landkreise Ravensburg, Biberach, Sigmaringen und den Bodenseekreis, lebten etwa 110 000 Kinder und Jugendliche. „Und wir sehen schätzungsweise vier oder fünf Fälle von körperlicher Kindesmisshandlung im Jahr. Und davon ist vielleicht einer dieses klassische Schütteltrauma.“
Hilfsnetz stark entwickelt
Und was passiert, wenn ein misshandeltes Kind in der Klinik auffällt? „Je nach Schwere informieren wir sofort das Jugendamt oder auch die Polizei“, sagt Andreas Artlich und betont: „Diese Stellen kümmern sich und handeln im Notfall wirklich sofort.“Der Mediziner bestätigt, dass sich das Netz der Hilfe für Kinder stark entwickelt habe, seit er vor 17 Jahren nach Ravensburg kam.
Die junge Mutter Natalie hat damals nach ein, zwei Grenzsituationen zunächst mit einer Beraterin vom Jugendamt über ihre Hilflosigkeit gesprochen. Die alleinerziehende Mutter hat sich dann eine Zeit lang von einer Familienhelferin begleiten lassen, deren Handynummer immer neben dem Telefon gelegen hat. „Zu wissen, dass ich jemanden erreiche, der im Notfall kommen kann, das hat mir schon geholfen. Gewählt hat sie die Nummer nachts nie. „Das war dann gar nicht mehr nötig“, erzählt sie.
Inzwischen hat sich das Schreiproblem ihres Sohnes längst erledigt. Er geht in den Kindergarten, nächstes Jahr ist Einschulung. Ein ganz normaler kleiner Bursche, der nichts davon ahnt, dass er die Grenzen seiner Mutter schon so sehr ausgetestet hat.