Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
80 Jahre warten auf die Synagoge
Die jüdische Gemeinde Konstanz bekommt nach Jahrzehnten endlich wieder ein eigenes Gotteshaus im Herzen der Altstadt
KONSTANZ - Die Stunde Null der jüdischen Gemeinde von Konstanz schlägt am Dienstag, 22. Oktober 1940: Es ist ein bewölkter Herbsttag, an dem die Nazis die letzten 108 noch verbliebenen Juden aus der Stadt am Bodensee abholen, um sie in das Konzentrationslager nach Gurs in Südfrankreich zu deportieren. Unglückliche, denen die Flucht in die nur einen Steinwurf entfernte Schweiz durch die Eidgenossen verwehrt blieb, „wegen Überfremdungsgefahr abgelehnt“, wie es damals offiziell heißt. Verzweifelte, die bis zuletzt nicht daran glauben wollen oder können, dass ihnen irgendjemand tatsächlich so etwas antut, während Nachbarn, Bürger, Mitmenschen ihre Vertreibung schweigend zulassen. Dabei hatte die jüdische Gemeinde von Konstanz 1932 mit rund 600 Mitgliedern zuvor noch eine Blüte erlebt und die Synagoge in der Sigismundstraße 19 war der ganze Stolz der Gläubigen. Aber es hilft nichts: „Baden wurde damals als erstes Gebiet im deutschen Reich für judenfrei erklärt“, sagt Peter Stiefel, der Vorstandsvorsitzende der Synagogengemeinde Konstanz. Ein lockiger grauer Haarkranz rankt sich um den Kopf des 70-jährigen Mannes, der seine Sätze nüchtern ausspricht.
Zerstört in der Reichskristallnacht
Zwei Jahre zuvor, in der Reichskristallnacht am 9. November 1938, musste die jüdische Gemeinde zusehen, wie ihre Synagoge der Zerstörungswut des „Volkszorns“zum Opfer fiel. Da muss Peter Stiefel doch kurz schlucken und am runden Konferenztisch im Büro von Rabbi Avigdor Stern fordert dieses Ereignis auch 80 Jahre danach noch einen kurzen Augenblick des Innehaltens, während durch die offenen Fenster der fiebrige Atem des Konstanzer Sommers hereinweht.
Doch die Konstanzer Juden von heute haben keine Lust, den Blick immer nur in die Vergangenheit zu lenken. Und sie wollen auch der zerstörten Synagoge – erbaut 1886 – nicht mehr nachtrauern. Arthur Bondarev jedenfalls nicht, zumal die gegenwärtigen Wochen und Monate geprägt sind von der Baustelle der neuen Konstanzer Synagoge – in der Sigismundstraße 8 – und damit in der gleichen Gasse mitten im Herzen der Konstanzer Altstadt, wo die alte Synagoge einst stand. Der 26-Jährige mit Brille und Vollbart ist das jüngste Mitglied im Vorstand der Synagogengemeinde. Auf seinem Haupt sitzt eine schwarze Kippa. Die traditionelle jüdische Kopfbedeckung trägt er immer und nicht nur, wenn sich ein Journalist angekündigt hat. „Ein ehemaliger Bundespräsident hat mal gesagt: ,Juden gehören zum deutschen Straßenbild.’ Aber das stimmt nicht. Ich will aber, dass es so ist.“In aller Klarheit will Bondarev damit ein Zeichen setzen. Er weiß aber auch, dass nicht alle Juden diese Haltung teilen: „Viele tragen ihre Kippa unter einer Kappe.“
Aber gehört überhaupt Mut dazu, in Konstanz offen als Jude in Erscheinung zu treten? Gibt es Grund zur Sorge nach den ernsten antisemitischen Übergriffen in Berlin und anderen Großstädten Deutschlands, die auch Juden in der Bodenseestadt betroffen und bisweilen ratlos zurückgelassen haben? Jetzt im Jahr 2018, wo es plötzlich wieder eine lautere Antisemitismusdebatte gibt?
„Das Sicherheitsgefühl ist unterschiedlich ausgeprägt“, erklärt Peter Stiefel und geht im Kopf die vergangenen Jahrzehnte durch. Aber er kann sich an ernstzunehmende Ereignisse wie etwa körperliche Übergriffe nicht erinnern. Auch Arthur Bondarev fühlt sich in Konstanz wohl und sicher. Neben seinem Engagement in der Synagogengemeinde studiert er Wirtschaftswissenschaften und sagt: „Die Leute reagieren sehr interessiert auf die Kippa.“ Ein bisschen Kalkül sei schon mit der religiösen Kopfbedeckung verbunden. „Um die Kommunikation anzuregen.“Und das sei schließlich das Wichtigste: der interreligiöse Austausch untereinander. Egal, ob jemand nun Jude, Muslim, Christ oder Angehöriger einer anderen Religion ist. In diesem Sinn stehe das Gemeindezentrum jedem Interessierten nach Anmeldung offen. Derzeit noch in einem unscheinbaren mehrstöckigen Gebäude in der Schottenstraße. Und sehr bald schon – „wir hoffen auf den Mai 2019“, sagt Peter Stiefel – in der Sigismundstraße 8. Die Gemeinde zählt seit etwa zehn Jahren mehr oder weniger konstant 300 Mitglieder.
Die Geschichte der neuen Synagoge beginnt im Prinzip mit der Zerstörung der alten, die eine tiefe Wunde in die Seele der Gemeinde gerissen hat und von Anfang an die Sehnsucht nach der Wiedererrichtung eines richtigen Gotteshauses weckte. Nach Kriegsende dauert es nicht lange, bis befreite Juden wieder nach Konstanz kommen, zunächst in ein Auffanglager auf der Insel Mainau. „Anfang der 1950er-Jahre waren es zeitweise wieder 600“, sagt Peter Stiefel. Viele dieser Menschen erhoffen sich, über die Schweiz aus Deutschland auszureisen, aber: „Es war damals wie heute wieder: Flüchtlinge sind unerwünscht“, sagt Stiefel und zuckt mit den Schultern. Die Grenzen waren dicht. Als es dann nach der Gründung des Staates Israel die Möglichkeit gibt, dorthin zu gehen, nimmt die Zahl der Konstanzer Juden wieder deutlich ab. In dieser Zeit findet das Gemeindeleben in provisorischen Räumen statt. Shimon Nissenbaum ist es, der 1986 die jüdische Gemeinde in ihrer heutigen Form neu gründet. In einem Hochhaus, das der Unternehmer an der Stelle der alten Synagoge errichtet, plant er auch einen Gebetsraum mit ein. Der wird aber spätestens mit dem Zustrom der Kontingentflüchtlinge, die als Juden ab 1991 die Chance haben, aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland zu kommen, zu klein. Auch Arthur Bondarevs Eltern sind ehemalige Kontingentflüchtlinge. Umso brennender steht durch den Platzmangel die Frage nach einer richtigen Synagoge im Raum – erste Verhandlungen mit der Stadt um einen Standort reichen fast 40 Jahre zurück.
Zunächst können sich jüdische Gemeinde und Stadt nicht so recht auf einen geeigneten Platz einigen – ein Areal direkt am Rhein und eines am Döbeleplatz werden wieder verworfen. 1998 beginnen die Parteien erstmals, über die Sigismundstraße 8 zu verhandeln, das ehemalige Hotel Anker, früher auch genutzt als Flüchtlingsunterkunft. „Doch man konnte sich sechs Jahre lang nicht darauf einigen“, erinnert sich Peter Stiefel ohne Details über die Querelen von damals zu erzählen. „Fakt ist, dass der Bau bald fertig ist und sich alle freuen“, fasst der 70-Jährige zusammen. Alten Medienberichten zufolge hat der damalige Zwist seine Ursache in unterschiedlichen Vorstellungen orthodoxer und liberaler Juden der Gemeinde.
Die Kosten für das modern errichtete Gotteshaus sowie das direkt daneben liegende historische Gebäude für Büros und Verwaltung belaufen sich auf fünf Millionen Euro, der erste Spatenstich war am 9. November 2016 – exakt 78 Jahre nach der Reichspogromnacht. Bauherr ist die Israelitische Religionsgemeinschaft Baden. Die Finanzierung schultert zum Großteil das Land Baden-Württemberg, das Grundstück im Wert von etwa 600 000 Euro, enthalten in der Gesamtinvestitionssumme, stellt die Stadt Konstanz zur Verfügung.
Das Herz des jüdischen Lebens
Auf der Baustelle zeigt Rabbi Avigdor Stern, wo das Herz des jüdischen Lebens ab Frühjahr schlagen wird: Der hohe Raum wird dominiert vom Rohbau eines Schreins, der in Zukunft die Torarollen beherbergt. Auf zwei Rängen befinden sich die Plätze der weiblichen Gemeindemitglieder. Oben fällt Licht durch ein mächtiges Fenster ins Gebäude. „Vor dieses Fenster kommt noch ein Davidstern“, erklärt der Rabbi und Arthur Bondarev deutet auf die gegenüberliegende Wand: „Wir möchten hier gerne einen Stein vom alten jüdischen Friedhof integrieren.“So solle das alte jüdische Leben von Konstanz im neuen und modernen Synagogenhauptbau seinen Platz erhalten. Davon abgesehen: Der historische Gebäudeteil nebenan mit all den strengen Denkmalschutzvorgaben hat die jüdische Gemeinde jede Menge Nerven gekostet. Rabbi Stern und Arthur Bondarev schweigen sich über Details lieber aus, wahrscheinlich weil es nicht nur im Christentum sondern auch im Judentum verboten ist, zu fluchen.
„Manche tragen ihre Kippa unter der Kappe. Ich trage sie immer offen.“Arthur Bondarev wünscht sich, dass Juden zum Straßenbild gehören
„Die jüdische Gemeinde Konstanz war 1940 komplett ausgelöscht.“
Peter Stiefel, Vorstandsvorsitzender der Synagogengemeinde Konstanz
Polizeischutz wie in Berlin?
Ein beginnender Regenschauer lässt die Konstanzer mit geduckten Köpfen durch die Sigismundstraße an der Baustelle vorbeieilen. In Berlin und anderen Großstädten Deutschlands stehen Synagogen unter dem besonderen Schutz der Behörden. Ein Polizeiposten am Eingang der Konstanzer Synagoge – ist das ein wünschenswertes oder vielleicht sogar notwendiges Szenario? Arthur Bondarev denkt kurz darüber nach, bevor er sagt: „Für das Sicherheitsgefühl mancher Gemeindemitglieder wäre das bestimmt gut. Aber es ist fraglich, ob es wirklich nötig ist. Obwohl: Man weiß immer erst hinterher, wenn etwas passiert ist, ob so etwas nötig gewesen wäre.“Von daher hätte auch Arthur Bondarev nichts gegen die besondere Aufmerksamkeit der Polizei einzuwenden.
Die jüdische Gemeinde freut sich jedenfalls auf das weithin sichtbare Zeichen in der Sigismundstraße 8, das da bald Zeugnis über das jüdische Leben in Konstanz ablegen wird. Auf der Rückfahrt in die Schottenstraße antwortet Arthur Bondarev auf die Frage, ob er als junger Mensch Hemmungen von Nichtjuden im Umgang mit Juden verspüre, ohne zu zögern mit „Ja“. Und er bedauert das. „Denn es sollte nicht so sein.“Nicht nach all der Zeit. Einen natürlichen und unbefangenen Umgang vermisse er. „Ein Grund mehr, aufeinander zuzugehen und sich nicht zu verstecken“, sagt der 26-Jährige, rückt seine Kippa zurecht, steigt aufs Fahrrad und arbeitet weiter daran, als Jude selbstverständlich und sichtbar zum Straßenbild zu gehören. Damit sich in Deutschland irgendwann niemand mehr nach dem Träger einer Kippa umdreht.