Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
„Wir haben hier in Deutschland eine sehr zivilisierte, tolerante Mehrheitsbevölkerung“
Die ehemalige Integrationsministerin Bilkay Kadem räumt ein, dass es Diskriminierung auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt gibt – sieht aber große Fortschritte
RAVENSBURG - Bilkay Kadem (SPD), geborene Öney, war von 2011 bis 2016 Landesministerin für Integration in Baden-Württemberg, Mit Sebastian Heinrich hat sie über die #MeTwo-Debatte gesprochen, über Integration und Shisha-Bars und über die Frage, wo Rassismus beginnt.
Frau Kadem, unter dem Stichwort #MeTwo haben in den vergangenen Wochen auf Twitter immer wieder Menschen ihre Erfahrungen mit Alltagsrassismus veröffentlicht. Gibt es eine Episode, die Sie besonders berührt hat?
Mir ist vor allem aufgefallen, dass Migrantenkinder in der Schule häufig unterschätzt wurden – also zum Beispiel trotz guter Noten in der Grundschule keine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen haben. Es gab aber auch viele Erfolgsgeschichten von Migranten, die es dann trotzdem geschafft haben, zu studieren und ihren Abschluss zu machen. Der Bildungsbereich ist ganz wichtig: Wenn man hier falsche Entscheidungen trifft oder falsche Urteile fällt, kann es sein, dass Menschen ihr Potenzial im Leben nicht ausschöpfen. Das finde ich tragisch.
Was sagen all die Berichte über Alltagsrassismus über den Stand der Integration in Deutschland aus?
Es sagt aus, dass Integration kein abgeschlossener Prozess ist. Dass man in der Minderheitenposition häufig mit Problemen zu kämpfen hat. Ich habe aus den Tweets viel Trauer und Resignation herausgelesen. Und Resignation halte ich für gefährlich, die bringt uns nicht weiter. Reden über Probleme schafft Probleme, Reden über Lösungen schafft Lösungen.
Es gibt ja auch eine optimistische Lesart der Debatte: Dass Menschen migrantischer Herkunft jetzt angekommen sind in Deutschland, dass jetzt eine öffentliche Debatte stattfindet. Sehen Sie das auch so?
Unbedingt. Das ist auch ein Zeichen dafür, wie stark die Opfer Diskriminierung wahrnehmen. Und inzwischen sagen auch mehr Menschen ohne Migrationshintergrund: Ja, es gibt Diskriminierung auf dem Wohnungsund Arbeitsmarkt. Wenn wir uns überlegen, was noch vor 30 Jahren normal war in der Sprache und heute nicht mehr, weil man sich politisch korrekter ausdrückt, haben wir doch schon viel erreicht. Das würde ich nicht schlechtreden. Während meiner Zeit in Baden-Württemberg habe ich mehrfach gehört, wie schwierig es in den 1970er-Jahren war, binationale Ehen zu führen. Heute sind sie selbstverständlich. Deutsche sind aufgeschlossener geworden, reiselustiger.
Sie waren fünf Jahre Integrationsministerin in Baden-Württemberg, jetzt arbeiten Sie in Berlin. Wo funktioniert Integration besser?
Man sollte Bundesländer nicht gegeneinander ausspielen. Natürlich funktioniert Integration besser, wenn es Vollbeschäftigung gibt, wenn weniger Verteilungskämpfe auf dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt stattfinden. Mein persönlicher Eindruck ist: Wenn der Migrantenanteil vor Ort niedriger ist, kann Integration besser gelingen. Auf der Schwäbischen Alb gibt’s keine Shisha-Bar, sondern die Freiwillige Feuerwehr. Wenn man sich engagieren will, geht man da hin. In Berlin kann es viel eher passieren, dass sich jemand in seinem eigenen Biotop wohlfühlt, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen.
In Ravensburg oder Biberach gibt es auch Shisha-Bars – und da gehen auch viele Deutsche ohne Migrationshintergrund hin.
Auch das ist Integration. Wenn es eine gute Mischung gibt, passt das doch. Aber wenn etwas aus dem Gleichgewicht gerät, kann es kippen.
Mesut Özil hat seinen Rücktritt aus der Fußballnationalmannschaft mit der Aussage begleitet: Ich bin Deutscher, wenn wir gewinnen – und Immigrant, wenn wir verlieren. Damit hat er bei vielen Menschen nicht deutscher Herkunft einen Nerv getroffen. Machen Sie persönlich ähnliche Erfahrungen, als Deutsche türkischer Herkunft?
Ich versuche, mich selbst nicht besonders wichtig zu nehmen. Immer, wenn ich den Eindruck habe, das ist jetzt nicht so schön, fallen mir Dinge ein, die auf der Welt viel schlechter laufen. Wenn ich an die Black-LivesMatter-Bewegung denke und daran, wie viele farbige Menschen in den USA Opfer von Polizeigewalt wurden, wird mir klar: Alles in allem haben wir hier in Deutschland eine sehr zivilisierte, tolerante Mehrheitsbevölkerung. Das Maß an Diskriminierung ist in anderen Ländern deutlich höher.
Aber momentan beklagen viele sprachliche Verrohung und wachsenden Rassismus.
In einer Zeit, in der die Verunsicherung zugenommen hat – aufgrund des Flüchtlingszustroms oder des islamistischen Terrorismus – ist es verständlich, dass das zu Ängsten führt. Man muss sachliche Debatten über die Themen führen und man muss unterscheiden: Rassismus ist ein harter Vorwurf und ein hartes Wort. Oft handelt es sich um Homophilie – also, dass man jemanden bevorzugt, der einem ähnlich ist. Das erklärt, warum man bei der Wohnungsoder Jobvergabe lieber jemanden nimmt, den man glaubt besser zu verstehen, bei dem man weniger Probleme vermutet. Automatisch auf Rassismus zu schließen, ist insofern überzogen. Damit spielt man wieder denen in die Karten, die Rassismus komplett leugnen. Wenn man politisch korrekt über Minderheiten sprechen will, sollte man auch politisch korrekt unterscheiden, was echter Rassismus ist und was nicht.
Sie haben also Verständnis für Menschen, die Berichte über Rassismus und Diskriminierung als Gejammer abtun?
Ich glaube, jeder Mensch sieht im Alltag nur seine Probleme und sieht nicht, wie schwer es vielleicht sein Gegenüber hat. Wenn eine Gruppe regelmäßig und häufig Diskriminierung beklagt, empfinden andere das möglicherweise als überzogen oder hysterisch. Vielleicht hilft ein bisschen Empathie. Und auch darüber zu sprechen, wie viel hier gut gelingt. Im Bereich Integration engagieren sich viele Deutsche ohne Migrationshintergrund in Kirchen und NGOs für Migranten. Das ist ein großer Schatz. Es gibt Hass, es gibt aber auch viel Güte. Das muss man auch anerkennen.
Wo muss sich die Gesellschaft in den kommenden Jahren noch weiterentwickeln?
Was wir definitiv zu viel haben, sind Stereotype. Und die gibt es nicht nur über Migranten, sondern auch über Ostdeutsche, die manchmal als ,Jammerossis’ bezeichnet werden. Die Menschen in Ostdeutschland beklagen nicht ganz zu Unrecht, dass sie weniger Geld verdienen als im Westen, dass sie weniger in Führungspositionen vorkommen. Es gibt auch viele Vorurteile über Schwaben, gerade hier in Berlin. Wenn ich mit diesen Vorurteilen auf Schwaben zugegangen wäre, wäre ich hoffnungslos verloren gewesen. Ich habe in BadenWürttemberg wunderbare Menschen kennengelernt – das war aber nur möglich, weil ich offen auf die Menschen zugegangen bin. Wir müssen an unseren Vorurteilen arbeiten beziehungsweise daran, sie zu überwinden. Das ist eine wichtige Aufgabe für Medien, Politiker – aber auch für jeden Bürger selbst.