Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Einmal mit dem Rollstuhl aufs Münster hinauf
Am Tag des offenen Denkmals können Menschen mit Behinderung auf den Turm des Ulmer Wahrzeichens fahren
ULM - Sitzen, ganz still sein und einfach schauen: Der gestrige Tag des offenen Denkmals bot Menschen, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, erstmals die Möglichkeit, auf den Turm des Ulmer Münsters zu kommen und – bei bestem Spätsommerwetter – den Blick in die Weite zu genießen.
Die Mitarbeiter der Münsterbauhütte, die den Bauaufzug an der Westseite des Münsters täglich benützen, hatten ihren Arbeitsplatz auf Station 8 des Aufzugs perfekt für die Rollstühle vorbereitet. Metallplatten erleichterten die Ausfahrt aus dem Bauaufzug, seitliche Planken und Netze sicherten ab, dass kein Rad eines Rollstuhles an den Rand des befahrbaren Weges geraten konnte.
Wen die Fahrten auf 71 Meter Höhe am Ende mehr ergriffen – die Menschen im Rollstuhl oder die Mitarbeiter der Münsterbauhütte, die die Freude der Rollstuhlfahrer erlebten – war schwer abzuwägen.
16 Fahrten mit dem Bauaufzug waren am gestrigen Sonntag angeboten, 32 Rollstuhlfahrer hatten mit jeweils einer Begleitperson – nach Anmeldung und auf Anregung der Kulturloge – die Chance, am Tag des offenen Denkmals auf den Münsterturm zu kommen und von der Westseite aus entlang der Südseite bis zum Osten des Turmes zu fahren. Der Blick ging dabei über Neu-Ulm und schließlich über das Dach des Kirchenschiffes hin nach Osten.
Christian von Coelln, der seit seiner Kindheit an einer spastischen Lähmung leidet, strahlt über das ganze Gesicht und hält mit seiner Kamera so viele Eindrücke wie nur möglich fest. Zum ersten Mal im Leben ist er auf dem Münsterturm. „Die erste Möglichkeit für mich und die beste Möglichkeit“, jubelt der Mann, der in Neu-Ulm lebt. „Und ich bin dabei!“
„Das ist genial, wunderschön, ganz toll“, äußert der Langenauer Traugott Gerstlauer. Er arbeitete früher in einem Geschäft am Münsterplatz und kennt den Münsterturm gut, und vor etwa 20 Jahren war er – Jahre nach der Diagnose Multiple Sklerose – noch auf dem Turm. „Als ich noch laufen konnte“, sagt Gerstlauer. Seit acht Jahren aber ist der einst sehr sportliche Mann auf den Rollstuhl angewiesen – und das Gefühl, wieder den Wind in der Höhe um die Nase streichen und den Blick über die Dächer Ulms streifen zu lassen, lässt ihn einfach nur genießen.
Angst vor dem Bauaufzug brauchte niemand zu haben, denn im Gegensatz zu seinem Vorgängermodell gleitet der heutige Aufzug in einer Minute ruckelfrei nach oben. Im Aufzug und oben auf dem Turm standen Mitarbeiter der Münsterbauhütte den Rollstuhlfahrern und ihren Begleitern zur Seite und beantworteten Fragen auch zum aktuellen Baugeschehen. Manch einer wäre wohl gern länger als etwa 20 Minuten geblieben, um zu schauen. Doch um 16 Fahrten zu organisieren, musste der Zeitplan eingehalten werden – schließlich warteten bereits andere angemeldete Rollstuhlfahrer unten. Passanten kamen auch mit nicht angemeldeten Angehörigen im Rollstuhl, doch die mussten von Dekan Ernst-Wilhelm Gohl und den Pfarrern Peter Schaal-Ahlers und Stefan Krauter vertröstet werden: Die 32 möglichen Plätze für waren ausgebucht. „Wir machen es wieder“, ist Münsterbaumeister Michael Hilbert überzeugt. „Es geht nur am Tag des offenen Denkmals und nur mit Anmeldung, anders ist es nicht zu organisieren. Aber es ist wirkliche Inklusion. Und es ist ergreifend, so viel Freude zu erleben.“
Die ist unten auf dem Münsterplatz spürbar, als der Bauaufzug wieder am Boden ankommt. „Danke!“, hört Münsterbauhütten-Mitarbeiter Roman Koch, der den Aufzug bediente, von seinen Passagieren. „Danke!“