Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Die Chance auf ein neues Leben
Seit 25 Jahren berichtet die Straßenzeitung über Armut in der reichen Stadt München – Für viele Obdachlose ist das Blatt zum Rettungsanker geworden
Wolfgang Räuschl hat seinen Wohnort zu seinem Arbeitsplatz gemacht. Doch was in Zeiten, in denen das Homeoffice vielen als Verheißung gilt, wie eine tolle Sache und ein Akt der Selbstbestimmtheit klingt, hat einen traurigen Hintergrund. Aber auch ein Happy End.
Denn Wolfgang Räuschl arbeitet auf der Straße. In München. Dort also, wo nach landläufiger Meinung das Geld nur so herumliegt. Tatsächlich aber finden sich dort selten Euroscheine auf der Straße, dafür aber geschätzte 9000 Obdachlose – dreimal so viele wie noch vor sieben Jahren. Zu jenen Menschen ohne Dach überm Kopf gehörte auch Wolfgang Räuschl. Zwei Jahre lang schlief der Österreicher auf der Straße. Oder genauer gesagt: im Englischen Garten, wo er meist sein Nachtquartier aufschlug. Und wenn’s im Winter mal besonders eisig war, dann fuhr der heute 59-Jährige eben mit der S-Bahn. „Von Herrsching bis zum Flughafen, das war die längste Fahrt, eineinhalb Stunden hat das gedauert“, erzählt Räuschl. „Ich habe immer Zeitung gelesen, dann haben einen die S-BahnWachen in Ruhe gelassen.“
Inzwischen lebt Wolfgang Räuschl in einer kleinen Wohnung im Stadtteil Thalkirchen und nicht mehr auf der Straße. Dafür arbeitet er dort – als Verkäufer der Straßenzeitung BISS, die für ihn der Rettungsanker war. Das Kürzel steht für „Bürger in sozialen Schwierigkeiten“und dahinter steckt die erste deutsche Straßenzeitung überhaupt, die vor 25 Jahren gegründet wurde. Die Idee kam bei einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing auf, wo sich eine Gruppe um den Pro-Asyl-Mitgründer Jürgen Miksch ein Vorbild an Straßenzeitungen in den USA und England nahm – vor allem an „The Big Issue“aus London. Die Idee dahinter: Professionelle Journalisten produzieren eine Zeitschrift, die Obdachlose auf der Straße verkaufen, um sich so etwas Geld zu verdienen.
„Am Anfang war BISS eine soziale Bewegung, der sich Journalisten, Sozialarbeiter, Kirchenleute und obdachlose Menschen angeschlossen haben“, erzählt Karin Lohr, heute BISS-Geschäftsführerin. „Man wusste damals nicht wirklich, in welche Richtung sich das entwickeln würde.“Doch schon die erste Ausgabe – veröffentlicht am 17. Oktober, dem internationalen Tag für die Beseitigung der Armut – war ein voller Erfolg und musste mehrmals nachgedruckt werden. Seither erscheint die Zeitschrift monatlich, umfasst etwa dreißig Schwarz-Weiß-Seiten und ist wie ein Nachrichtenmagazin aufgebaut – freilich mit einem Schwerpunkt auf sozialen Themen. So enthielten die jüngsten Ausgaben etwa Geschichten über das Wohnen im Alter oder Obdachlose am Flughafen, aber auch ein Interview mit Iris Berben. Produziert wird das Blatt von einer professionellen Redaktion und unter dem Dach eines Vereins, der die Straßenzeitung durch Verkaufserlöse, Anzeigen und Spenden finanziert – ohne öffentliche Gelder.
Im Zentrum aller Überlegungen stehen bei BISS die Verkäufer, die allesamt bedürftig im Sinne des Sozialgesetzbuchs und größtenteils obdachlos sind. Ihnen will die Straßenzeitung Hilfe zur Selbsthilfe leisten – wobei in der Anfangszeit noch geplant war, die Obdachlosen über BISS in ein normales Arbeitsleben zurückzuführen. Doch dieses Vorhaben habe man relativ schnell wieder aufgeben müssen, sagt Karin Lohr. „Weil sich gezeigt hat, dass man diese Leute nur schwer irgendwo in einem anderen Job unterbringt.“Und so kamen die BISS-Macher fünf Jahre nach der Gründung auf die Idee, ihre Verkäufer selbst anzustellen – bis heute der Schlüssel des Erfolgs. So hat die Straßenzeitung in 25 Jahren nicht nur fast tausend meist obdachlosen Menschen in ihrer Not geholfen, sondern aktuell zählt sie auch 51 festangestellte Verkäufer – darunter Wolfgang Räuschl, der seinen Stammplatz vor dem Kulturzentrum Gasteig hat. Hier verkauft er die BISS meist vormittags und abends, wenn die Konzert- und Theaterbesucher nach Hause strömen. „Ich bin nie aufdringlich, sage aber zu jedem ,Grüß Gott’ und ,Guten Abend’, ,Bitte’ und ,Danke’“, sagt Räuschl. „Ich habe viele Stammkunden, mit denen ich über alles Mögliche rede – Fußball, Wetter, Politik.“
Nicht so gern spricht Wolfgang Räuschl dagegen über seine Vergangenheit und wie er damals auf der Straße gelandet ist. Im Gastgewerbe habe er gearbeitet, erzählt er vage, irgendwann den Job verloren, danach die Partnerin, danach die Wohnung. Weg von der Straße kam er über eine Bierflasche – ausgerechnet. Dabei habe er auch als Obdachloser Alkohol und Drogen nie angerührt, betont Räuschl.
Vielmehr war er 2011 als Flaschensammler unterwegs und stieß eines Tages auf eine besondere Bierflasche, von denen die BISS-Macher Dutzende im Stadtgebiet verteilt hatten, um neue Verkäufer anzuwerben. „Auf dem Etikett stand, dass man statt acht Cent das Doppelte bekommt, wenn man die Flasche bei BISS zurückgibt“, erzählt Räuschl. „Also bin ich dorthin, und wir sind ins Gespräch gekommen. Ich habe gesagt, dass ich mir alles vorstellen kann – solange ich eine Arbeit habe, bei der ich krankenund rentenversichert bin.“
Und so erhielt
Räuschl seinen Arbeitsplatz am Gasteig zugewiesen; für 1,10 Euro je Exemplar erwarb er die ersten Zeitungen, die er danach für 2,20 Euro verkaufte – den Gewinn durfte er behalten. Wie fast alle BISS-Verkäufer begann Räuschl als freier Mitarbeiter. Erst später, wenn man über 400 Zeitschriften im Monat verkaufen kann, winkt die Chance auf eine Festanstellung.
Wolfgang Räuschl gelang dieser Sprung bereits nach wenigen Wochen; einige Monate später fand er dank BISS eine Wohnung. Und was fast genauso wichtig für den 59-Jährigen war, der infolge der Obdachlosigkeit etliche Zähne verloren hatte: „Durch die Krankenversicherung habe ich ein neues Gebiss bekommen. Seitdem kann ich endlich wieder Schweinsbraten essen.“
Mehr noch: Sein Gehalt – laut BISS verdienen angestellte Verkäufer zwischen 800 und 2100 Euro brutto – reiche ihm heute zum Leben, sagt Räuschl. „Klar muss ich sparen und im Supermarkt nach Angeboten schauen.“Aber Monat für Monat könne er stets auch ein paar Euro zur Seite legen. Damit fährt er dann einmal im Jahr zwei Tage nach Verona – wegen der Stadt und ihrer Oper. „,Aida’ und ,Nabucco’ habe ich da schon gesehen“, schwärmt Räuschl, „und letztes Jahr war ich im ,Barbier von Sevilla’“.
Derlei Hochkultur mag auf Anhieb nicht zu jenem Bild passen, das viele Menschen von Obdachlosen haben. Von deren Leben auf der Straße und deren Problemen erzählt auch BISS regelmäßig – unter anderem, wenn die Bedürftigen selbst im Rahmen der sogenannten Schreibwerkstatt Texte für die Zeitschrift verfassen. Um auf die Armut in der reichen Stadt München hinzuweisen, hat BISS zudem immer wieder aufsehenerregende Plakatkampagnen mit Prominenten wie Uli Hoeneß und Konstantin Wecker initiiert. Und natürlich dem exzentrischen Modedesigner Rudolph Moshammer, dessen Stiftung bis heute zu den wichtigsten BISS-Unterstützern zählt.
Derweil sind in den vergangenen 25 Jahren viele weitere Straßenzeitungen in Deutschland hinzugekommen; aktuell gibt es rund 35, vor allem in Großstädten. Um sie hat sich zuletzt eine Debatte entsponnen, nachdem eine der bekanntesten Zeitschriften, der „Straßenfeger“in Berlin, wegen wirtschaftlicher Probleme im Sommer hatte aufgeben müssen. Der Trägerverein sprach damals von einer „deutschlandweiten Krise der Straßenzeitungen“. Tatsächlich leiden diese unter einem ähnlichen ökonomischen Druck wie andere Printmedien. Und anders als bei diesen stellt eine Online-Version für Straßenzeitungen nur bedingt eine Alternative dar – schließlich ist ihr Kerngedanke ja, dass Obdachlose ein gedrucktes Heft verkaufen.
Bei BISS ist von einer Krise freilich nichts zu spüren, betont Geschäftsführerin Karin Lohr und verweist auf die konstante Auflage von monatlich rund 39 000 Exemplaren. Auch vor dem Gasteig hat Wolfgang Räuschl nicht festgestellt, dass die Geschäfte schlechter laufen. Ohnehin habe er, das sagt er ein ums andere Mal, endlich eine Arbeit gefunden, die ihm Freude bereite. Mehr noch: „BISS ist für mich zu einer Familie geworden“, sagt Wolfgang Räuschl. Eine Familie, die ihn sein Lebtag lang begleiten wird – und womöglich darüber hinaus. So gibt es seit zehn Jahren ein BISS-Grab für Verkäufer auf dem Münchner Ostfriedhof. „Ich habe schon alle Formulare ausgefüllt“, sagt Wolfgang Räuschl. „Wenn ich sterbe, will ich dort begraben werden.“
Es hat sich gezeigt, dass man diese Leute nur schwer irgendwo in einem anderen Job unterbringt.
Karin Lohr, BISS-Geschäftsführerin, über die obdachlosen Verkäufer Ich habe viele Stammkunden, mit denen ich über alles Mögliche rede – Fußball, Wetter, Politik.
Wolfgang Räuschl, BISS-Verkäufer auf der Straße