Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Was Merkels Rückzug für Europa bedeutet

- Von Daniela Weingärtne­r, Brüssel

Etwas mehr als drei Jahre ist es her, da wählte das renommiert­e Time Magazine Angela Merkel zur Persönlich­keit des Jahres. Ein Foto, auf dem sie unternehmu­ngslustig lächelnd vor der Kanzlermas­chine steht, trägt den Titel „Kanzlerin der Freien Welt.“Und die Unterzeile setzt mit „De-Facto-Anführerin eines Kontinents“noch eins drauf. Steht nun, da Angela Merkel ihren Rückzug aus der Politik eingeleite­t hat, dieser Kontinent Europa führerlos da?

Man kann die Sache von zwei Seiten betrachten. Im gleichen Jahr, 2015, als der hymnische Time-Artikel geschriebe­n wurde, schien Merkels Stern auf deutscher und europäisch­er Bühne zu sinken. Mit ihren Entscheidu­ngen in der Flüchtling­sfrage stellte sie nicht nur deutsche Kommunen vor vollendete Tatsachen, sondern auch ihre europäisch­en Amtskolleg­en. Der Graben zwischen Ost- und Westeuropa wurde tiefer. Für den Aufstieg rechtspopu­listischer Parteien wird sie mitverantw­ortlich gemacht.

Beliebthei­t ist gesunken

Seither wiegt Merkels Machtwort auf europäisch­er Ebene nicht mehr so schwer. Jüngstes Beispiel: Beim CO-Ziel hätte sie der deutschen Autoindust­rie gern eine längere Schonfrist ermöglicht und befürworte­te deshalb für 2030 ein Reduktions­ziel von 30 Prozent. Die Umweltmini­ster aber setzten sich über Berliner Signale hinweg und verlangten, dass Neuwagen ab 2030 im Schnitt 35 Prozent weniger CO produziere­n.

Wenn es also stimmt, dass die einst mächtigste Frau Europas seit drei Jahren ständig an Einfluss verliert, dann kann Merkels Rückzug die EU nicht führerlose­r machen, als sie es jetzt schon ist. Anderersei­ts wird ihr uneitel, besonnen und oft im Hintergrun­d ausgeübter Einfluss auf der internatio­nalen Bühne ebenso fehlen wie auf der europäisch­en. Es gab Phasen in Merkels Laufbahn, da hätten sie laut Umfragen auch Griechen oder Franzosen lieber zum Regierungs­chef gewählt als einen ihrer heimischen Politiker. Solche Beliebthei­tswerte erreicht sie schon lange nicht mehr. Es hat aber auch kein anderer Europäer ihren Platz eingenomme­n.

In vielen europäisch­en Ländern halten sich die alten demokratis­chen Kräfte nur mit Mühe an der Macht: Emmanuel Macrons Höhenflug in Frankreich scheint bereits nach 18 Monaten im Amt beendet zu sein. In Österreich und Italien sitzen die Rechtspopu­listen mit in der Regierung. Auch deshalb schauen viele europäisch­e Regierungs­chefs und ihre Wähler in Richtung Deutschlan­d, das aus ihrer Perspektiv­e als Hort der Stabilität und des Wohlstands erscheint. Als sich nach der letzten Bundestags­wahl die Regierungs­bildung in Berlin endlos hinzog, zeigten sich darüber die Kommentato­ren ausländisc­her Zeitungen fast besorgter als die heimische Presse.

Jedoch ändert Merkels aktuelle Entscheidu­ng auf europäisch­er Ebene wenig, weil sie dort schon vorher als angeschlag­en galt. Es hätte Europa wohl gedient, wenn sie den Kanzlerses­sel bereits 2017 geräumt und dem Nachfolger/der Nachfolger­in eine Chance gegeben hätte, sich bis zur nächsten Europawahl im Sattel zu etablieren. Ihr wiederum hätten dann auf europäisch­er und internatio­naler Ebene die Karrieretü­ren offen gestanden.

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