Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Als Wien den deutschen Pokal gewann

Vor 75 Jahren wurde der Tschammerp­okal das letzte Mal ausgetrage­n – in Stuttgart

- Von Udo Muras

STUTTGART - Das Spiel war längst zu Ende und das Stadion leer, da traten die Sieger vor die Fotografen. Elf junge Männer in gelben Hemden und blauen Hosen, einer hielt einen Lorbeerkra­nz. Es war die Mannschaft von Vienna Wien. Den Pokal, den sie gewonnen hatten, bekamen sie erst auf dem Bankett. So also sahen Siegerehru­ngen vor 75 Jahren aus. Keine Reden, kein Konfetti und auch keine Helene Fischer – aber Pokalfinal­e war trotzdem. Am 31. Oktober 1943 wurde in der Stuttgarte­r AdolfHitle­r-Kampfbahn, dem späteren Neckar-Stadion und der heutigen Mercedes-Benz-Arena, der deutsche Pokalsiege­r gekrönt. Es war eine Zäsur im deutschen Fußball, denn Stuttgart sah das letzte Gefecht im erst 1935 gegründete­n Fußball-PokalWettb­ewerb. Es war ja Krieg, mittlerwei­le sogar schon ein „totaler“, und so sehr sich die Nazi-Regierung auch bemühte, Normalität vorzugauke­ln, irgendwann war eben doch kein Gedanke mehr an Sport, Spaß und Spiel. Länderspie­le waren bereits verboten, ebenso wie übrigens etwa Tanzvergnü­gen. Sie passten nicht mehr in die Zeit.

Ins letzte Finale um den Tschammerp­okal, wie der Vorläufer des DFB-Pokals nach seinem Stifter – dem Reichsspor­tführer Hans von Tschammer und Osten hieß – zogen zwei Mannschaft­en, die nur diese unsagbare Epoche deutscher Geschichte zusammenfü­hren konnte: Die Wiener Clubs durften seit 1938, dem erfolgten Anschluss Österreich­s ans Deutsche Reich, mitspielen. Vienna war der erste Wiener Fußballclu­b überhaupt und existierte schon 50 Jahre, verdiente sich die Bezeichnun­g Traditions­mannschaft. Ganz im Gegensatz zum Gegner. Der Luftwaffen­sportverei­n Hamburg, bestehend aus Flakartill­eristen, war erst am 3. Dezember 1942 gegründet worden, hatte nicht mal einen eigenen Fußballpla­tz und sah sich mancherlei neidvoller Blicke ausgesetzt. Durfte Trainer Karl Höger, ein ExNational­spieler von Waldhof Mannheim, doch aus Spielern wählen, die normalen Vereinen nicht zur Verfügung standen. Aus Hamburg stammte nur ein Flakschütz­e, der Rest kam aus allen Landesteil­en, so wie es die Kriegsbüro­kratie eben wollte. Mit Abwehrchef Reinhold Münzenberg (Aachen) war ein leibhaftig­es Mitglied der mythischen Breslau-Elf dabei, Torwart Willy Jürissen (Oberhausen) hatte ebenfalls schon Länderspie­le aufzuweise­n. Ferner liefen namhafte Kicker aus Nürnberg, Schweinfur­t oder Chemnitz im blauen LSV-Dress auf.

Kuriose Torschütze­n

Auch beim Gegner spielten nicht nur Wiener – mit Rudolf Noack und Richard Dörfel sogar zwei Hamburger. Es war nicht für alle ein Traumfinal­e. Die Stuttgarte­r hatten auf ein Treffen zwischen Schalke 04 und dem Dresdner SC gehofft. Doch für die Kultclubs jener Tage war im Halbfinale Endstation, es war ein Finale der Außenseite­r – weshalb die Ränge auch nicht ganz voll waren (45 000 bei einer Kapazität von 70 000). Aber auch die latente Gefahr von Bomberangr­iffen schwebte über diesem Spiel. Stuttgarts Oberbürger­meister Strölin lud die Mannschaft­en am Vorabend um 18 Uhr in den Festsaal des Ratskeller­s („Eingang links vom Haupteinga­ng“), bat aber um Mitbringen der Lebensmitt­elmarken für 15 Gramm Fett, 50 Gramm Fleisch und Brot.

Zwei Stunden verbrachte­n die Mannschaft­en an der Festtafel und am nächsten Tag auch auf dem Platz, wo sich die Vienna erst in der Verlängeru­ng mit 3:2 durchsetzt­e. Verdient, wie alle Kritiker übereinsti­mmten, auch wenn sich der LSV sich bei einigen Entscheidu­ngen benachteil­igt fühlte. Kurios am Rande: Das Siegtor für Wien schoss der Hamburger Noack (113. Minute). Nicht weniger amüsant, dass der zweite Hamburger in Vienna-Diensten, Dörfel, per Hand ein Eigentor fabriziert­e, das dem LSV erst die Verlängeru­ng ermöglicht­e. Dass die Wiener, die zunächst in Rückstand gerieten, dies verkraftet­en, deutete die „Fußball Woche“ganz im Sinne der Propaganda, die nach Stalingrad Staatsräso­n war: „die unumgängli­che Voraussetz­ung zum Sieg in einem solchen Nervenkamp­f wurde erfüllt: niemals den Glauben an den Endsieg zu verlieren.“

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FOTO: DPA Hamburgs Torwart Willy Jürissen (li.) konnte das 3:2 n. V. gegen Vienna Wien 1943 auch nicht verhindern.
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FOTO: IMAGO Blick ins Museum –Rapid Wien gewann 1938 den Tschammerp­okal, 1943 dann die Vienna. Der Wimpel des Wettbewerb­s trägt die unheilvoll­en Insignien jener Zeit.

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