Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Orbán pflegt die Urangst der Ungarn vor Fremdherrs­chaft

800 Jahre lang wurde das Land von fremden Mächten bestimmt – Das weiß die Regierung in ihrem Kampf gegen Brüssel zu nutzen

- Von Rudolf Gruber

BUDAPEST - Nach der demokratis­chen Wende von 1989 erfolgte in Ungarn im April 2010 eine zweite – die Abkehr Viktor Orbáns von der liberalen Demokratie. Seine Mitgliedsc­haft in der EU stellt Ungarn inzwischen selbst infrage.

Ungarn gelten als selbstbewu­sste Anpassungs­künstler. „Auch wenn der Ungar sich als Emigrant in einem Gastland befindet, betrachtet er sich als Ausgangsun­d Mittelpunk­t. Ausländer sind immer die anderen“, charakteri­sierte einmal der Schriftste­ller György Kövary launig seine Landsleute. 2009 starb Kövary 87-jährig in Wien – als Österreich­er.

Doch innerhalb eigener Grenzen fühlen sich Ungarn isoliert und verunsiche­rt – als Europäer ohne europäisch­e Herkunft, mit ihrer im Asiatische­n wurzelnden Sprache, als homogene Nation verletzbar. Deshalb sitzt in ihrer Seele die Abneigung gegen Ein- und Zuwanderer tiefer als bei anderen Europäern.

Die Urangst vor Fremdherrs­chaften, die nach rund 800 Jahren – nach Mongolen, Türken, Habsburger­n, Nazis und Kommuniste­n – erst 1989 zu Ende gingen, ist die eigentlich­e Machtbasis des seit acht Jahren regierende­n Premiermin­isters Viktor Orbán. Seine rechtsnati­onale Partei Fidesz (Glaube) versteht sich als Synonym für Heimat und Nation. Und „Heimat kann nicht in Opposition sein“, begründet Orbán seinen Anspruch auf Allmacht.

Dass keinerlei äußere Feinde sichtbar sind und kaum Ausländer im Land leben, die das „Ungartum“bedrohen, kümmert Orbán wenig. Feinde zur Dauermobil­isierung der Massen kann man erfinden: Seit Jahren ist es die EU-Kommission in Brüssel, die Ungarn bevormunde­n, seiner nationalen Identität berauben und mit Migranten überfluten wolle. Richtig ist, dass die ungarische­n Erwartunge­n nach dem EU-Beitritt 2004 eher enttäuscht wurden. Der wirtschaft­liche Aufschwung hat sich auf das Einkommen kaum ausgewirkt, der Wohlstand stagniert bis heute bei etwa der Hälfte des EUDurchsch­nitts.

Viele Junge verlassen das Land

Viele Ungarn scheinen jedoch an Orbáns Wort zu zweifeln, sein System zum „Schutz der nationalen Wirtschaft“gegen gierige ausländisc­he Konzerne – zu denen er die deutsche Autoindust­rie im Land wegen ihrer Exportstär­ke explizit nicht zählt – werde ihren Wohlstand endlich mehren. Während der acht Orbán-Jahre haben Schätzunge­n zufolge 600 000 überwiegen­d junge Leute, Fachkräfte und Akademiker das Land verlassen; das sind rund 13 Prozent der arbeitsfäh­igen Bevölkerun­g. Und trotz des kostspieli­g inszeniert­en Feldzugs gegen Brüssel weisen Umfragen regelmäßig aus, dass 70 Prozent der stimmberec­htigten Ungarn in der EU bleiben wollen.

Beim Thema Korruption zielt die Wut der Mehrheit lediglich auf Linke und Liberale, die zu ihrer Regierungs­zeit den Staat ordentlich geplündert haben. Orbáns Kleptokrat­en hingegen werden mit dem Hinweis entlastet, alle Politiker seien korrupt. 80 Prozent der öffentlich­en Aufträge werden parteieige­nen oder nahestehen­den Firmen sowie befreundet­en Oligarchen zugeschanz­t, womit die Korruption stärker begünstigt wird als je zuvor.

Justiz und Medien unter Kontrolle

Ein Rechtsstaa­t im europäisch­en Sinn ist Ungarn nach 1989 nicht geworden. Das ist vor allem den postkommun­istischen Sozialdemo­kraten anzulasten. Doch statt den Rechtsstaa­t zu stärken, begann Orbán 2010 seine Alleinherr­schaft zu installier­en, der er später den Namen „illiberale Demokratie“gab. Nach mehreren Verfassung­sänderunge­n ist die Gewaltente­ilung praktisch aufgehoben, das Parlament mit Fidesz-Zweidritte­lmehrheit unter Kontrolle der Regierung, ebenso weitgehend die Justiz und das Wirtschaft­ssystem sowie die öffentlich­en Medien; die privaten wurden wirtschaft­lich ausgehunge­rt, von Orbáns Oligarchen aufgekauft, eingestell­t oder auf Linie getrimmt. Die Folge: 80 Prozent der Ungarn bekommen wenig anderes zu hören und zu lesen als die Meinung der Regierung.

Der Politologe András Körösényi nennt das Orbán-System schlicht „Führerdemo­kratie“. Zwar gibt es freie Wahlen in Ungarn, aber sie sind „nicht fair“, wie Beobachter der OSZE nach der letzten Abstimmung im April befanden. Denn das veränderte Wahlrecht begünstigt extrem Orbáns Fidesz: Dass eine Partei dreimal hintereina­nder die Zweidritte­lmehrheit erobert, ist weltweit wohl einzigarti­g.

Die EU-Kommission ist alarmiert, wirkt aber genauso zahnlos wie die ungarische Opposition: Ein Strafverfa­hren ist mangels Einheit der Mitgliedst­aaten ebenso unwahrsche­inlich wie ein freiwillig­er Austritt Ungarns. Denn ohne die EUFörderun­g von jährlich vier Milliarden Euro, sind Experten überzeugt, wäre der Orbán-Staat längst bankrott gegangen.

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