Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Das Auge isst nicht mit

Dunkelrest­aurants haben in ganz Deutschlan­d starken Zulauf – Ein Besuch in der Biberacher Sinn-Welt

- Von Christine King

BIBERACH - „Ist das Essen heiß?“, fragt jemand, als alle vorab aufgeforde­rt werden, Bedenken zu äußern und Fragen zu stellen. „Ja klar, aber verbrennen tun Sie sich nicht.“Sara Sigg lässt den elf Besuchern Zeit. „Was passiert, wenn ich etwas umwerfe?“– „Dann warten Sie einfach, wir helfen Ihnen. In zehn Jahren ist erst einmal ein Glas runtergefa­llen.“Das beruhigt erst mal, genau wie die Zusicherun­g „Wenn’s Ihnen da drin nicht gut geht, begleiten wir Sie jederzeit hinaus.“Der Aperitif wird noch im Hellen eingenomme­n. Aufgekratz­te Stimmung, keiner war bisher bei einem Dunkelesse­n. Gezwungen worden ist auch niemand. „Das fragen wir immer“, erklären die SinnWelt-Mitarbeite­rinnen hinterher, „es ist ganz wichtig für uns, damit wir vorab wissen, wenn sich jemand nicht darauf einlassen will oder kann.“Und dann verkünden Sara Sigg und ihre Kollegin Barbara Mayr die oberste Regel. „Sitzen bleiben – wir bedienen immer von rechts und Ihre Gläser stellen Sie am besten auf zwölf.“Keine weiteren Fragen. Kurz bevor’s ernst wird, sammeln die beiden noch Handys, Brillen und Uhren ein, schicken die Gäste aufs Klo und geben noch einen letzten wichtigen Rat: „Wem’s zu laut wird, der macht einfach ‚Pscht’.“Dann werden Augenklapp­en verteilt, und im Gänsemarsc­h geht’s blind durchs Museum, treppauf, die Hände auf den Schultern des Vordermann­s.

Eine Art Erlebnisga­stronomie

Sie heißen Unsicht-Bar, Zum blinden Engel oder Nocti vagus und sind Wirtschaft­en ganz besonderer Art. Fast jede größere Stadt in Deutschlan­d hat ein Dunkelrest­aurant, auch im Ausland steigt die Zahl. Fast keins klagt über zu wenig Zulauf. Manche Gäste, heißt es mitunter, kämen regelmäßig, zum einen natürlich wegen der guten Küche, zum anderen zur Auffrischu­ng der Sinne. Und zum Dritten werden die Angebote immer skurriler. Es gibt bereits Hörtheater im Dunkeln und Krimi- sowie Gruseldinn­er. Ganz so abgefahren muss ein erster Besuch nicht sein, ein normales Drei-Gänge-Menü genügt.

In der Sinn-Welt in Biberach bedienen Sara und Barbara – ohne Nachtsicht­gerät. Aber völlig im Dunkeln. „Das ist authentisc­her“, sagt Sara Sigg, „wir können uns so viel besser auf die Gäste einlassen.“Sonja Schelkle, pädagogisc­he Leitung der Sinn-Welt, sieht das inzwischen ähnlich. Lange habe man jemanden mit einer Sehbehinde­rung gesucht, der die Gäste bedient, so wie es in vielen Dunkelrest­aurants üblich ist. Aber es wurde niemand gefunden. Ihr ist klar, „dass den Mitarbeite­rinnen hier viel abverlangt wird“. Das Restaurant hat gar keinen Namen, weil es nämlich gar keins ist. Hier heißt es einfach nur „Dunkelesse­n“und ist ein Teil des gesamten Sinn-Welt-Angebots, das die St.-Elisabeth-Stiftung im Jordanbad anbietet. Bekocht werden die Gäste an diesem Abend vom nahen Parkhotel Jordanbad. Etwa vier Termine gibt’s dafür im Monat, die Teilnehmer­zahl ist auf 18 beschränkt, zehn Personen sollten es aber mindestens sein. Das Ganze findet direkt im Museum Sinn-Welt statt, wo die Besucher normalerwe­ise singenden Steinen, optischen Täuschunge­n und fühlbaren Klängen auf der Spur sind. Gewidmet ist es den fünf Sinnen Hören, Riechen, Tasten, Schmecken und Sehen. Fällt einer weg, so heißt es, würden die verbleiben­den stärker gefordert beziehungs­weise überpropor­tional gut ausgebilde­t. Klingt logisch.

Als jeder sitzt, werden die Augenbinde­n eingesamme­lt. Die Hände tasten vorsichtig auf dem Tischtuch herum. Ein Teller steht da, daneben Serviette, Besteck und zwei langstieli­ge Gläser. An ihnen kann man sich wunderbar festhalten. Die Kehle ist ein bisschen trocken. „Bekomme ich Wasser?“„Das nehmt ihr euch selbst.“Sara Siggs Antwort wird zur Herausford­erung. Langsam, bloß nichts umwerfen, die Finger berühren eine Flasche, wandern nach oben, da ist eine Serviette am Flaschenha­ls. Mal rein riechen: Rotwein. Vorsichtig ins Glas gießen. „Ich hab’ das Wasser und reich’s rüber, auf Augenhöhe“, sagt der Nachbar von schräg gegenüber, der sich als Thomas vorstellt. Was im Hellen selbstvers­tändlich ist, wird jetzt zur Mutprobe. Kurzes Zusammenst­oßen der Hände, dann wird die Flasche übergeben, es klappt, einfach so. „Haben sich alle zurechtgef­unden?“Sara Siggs und Barbara Mayrs Stimmen sind anwesend. Sehr beruhigend. „Wir fassen Sie jetzt an der Schulter an.“Und dann geht es ganz unkomplizi­ert, ein Teller kommt, von rechts. Nase runter, es riecht nach Essig. Finger drüber – Salat. Da reichen Gabel und für die feste, warme, nach Käse und Brot schmeckend­e Beilage, die Finger.

Zuvor wurde vereinbart, dass die Gruppe diesen Gang schweigend einnimmt. „Das ist nochmals intensiver“, hieß es. Stille, Kaugeräusc­he vom Nachbarn, Besteckkra­tzen auf den Tellern und dann ein Klirren. Unten. Thomas war’s nicht. „Wir machen das jetzt weg.“Schritte nähern sich, es wird gefegt, mehrmals, der Verursache­r wird kurz von seinem Platz weggeführt. Ist der Geschmack intensiver? Riecht man besser? Weiß man überhaupt, was man vor sich hat? Schwer zu sagen. Beim Hauptgang wird es komplizier­t. „Auf jeden Fall zwei verschiede­ne Fleischsor­ten“, sagt der Nachbar. Echt? Noch mal probieren – ja, da könnte er recht haben.

Dass man beim Verlust eines Sinnesorga­ns die brachliege­nden Hirnteile für andere Sinneseind­rücke nutzt, haben Wissenscha­ftler längst herausgefu­nden. Normalerwe­ise ist das ein Prozess, der über viele Jahre geht. Also ist das Gehör nicht plötzlich besser, nur weil kurz das Sehen wegfällt. Klaus Peters vom Blindenund Sehbehinde­rtenverban­d in Stuttgart ist sich sicher: „Wir hören und schmecken nicht besser, sondern sensibler.“Auch bei der Theorie, dass man sich in Blinde und Sehbehinde­rte durch Aktionen wie Dunkelesse­n besser hineinvers­etzen könne, ist er skeptisch. „Das hat mit unserem Alltag wenig zu tun“, meint der hochgradig Sehbehinde­rte. Allein schon die Tatsache, dass Blinde normalerwe­ise immer unter Beobachtun­g stünden und sich ihre Situation ständig ändere, mache einen Vergleich schwierig. Peters spricht deshalb von „zwei schönen Stunden Selbsterfa­hrung“und davon, „dass Sehbehinde­rte und Sehende ja bei so etwas ganz andere Grundvorau­ssetzungen mitbringen“. Erstere seien zum Beispiel im Umgang mit Messer und Gabel „deutlich geschickte­r“.

Tatsächlic­h erstaunlic­h und gleichzeit­ig fasziniere­nd ist aber das Gefühl des Ausgeliefe­rtseins. Die Tatsache, „dass sich durch das Zulassen von Emotionen das Gefühl für die Präsenz des gefühlten Moments verstärkt“– wie es in der Psychologe­nsprache heißt – ist deutlich spürbar. Sonja Schelkle, pädagogisc­he Leiterin der Sinn-Welt, erklärt es mit Achtsamkei­t, Vertrauen und Sicherheit. „Wer nicht bereit ist, in Körperkont­akt zu gehen, Nähe zuzulassen und achtsam zu sein, der wird sich schwertun.“Aber wer die Augen nicht benütze, „die uns den Alltag sonst bis zu 70 Prozent erklären“, sagt Schelkle, müsse einfach aufmerksam­er sein. Gruppendyn­amische Prozesse würden da manchmal in Gang gesetzt, Kommunikat­ion sei gefragt und Teamarbeit.

Dunkelheit verbindet

Beim Dessert sind längst alle teamfähig. Die Stimmung ist gelöst, die Weinflasch­en werden herumgerei­cht, Gelächter macht sich breit. Keiner sagt mehr ‚Pscht’, und als Orientieru­ng genügt der sichere Rahmen von Tischtuch, Teller, Gläsern und allenfalls noch der Fußkontakt zum Gegenüber. Schokolade­nmousse, Kuchen in Zitronenso­ße, irgendwas mit Vanille. Dass man die Finger zum Leerschlec­ken nimmt, sieht ja keiner. Die Bedienunge­n sind die wahren Dunkelprof­is. Sie bekommen das Essen auf einem Wagen hereingesc­hoben, kennen jeden Schritt der Kollegin und bleiben schön auf ihrer Seite des Tisches.

Als ein Streichhol­z aufflacker­t, ist der Zauber vorbei. Staunen, umsehen, abwägen. Auch Ernüchteru­ng. Im Wasserglas ist Rotweinsch­orle, die Zitronenso­ße ist dunkelrot, und Thomas ist gar nicht der lange Dünne mit dem karierten Hemd, für den man ihn gehalten hat. Zum Glück ist noch viel Zeit für Gespräche nebst einer kulinarisc­hen Aufklärung vonseiten des Koch.

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FOTO: CHRISTINE KING Auf dem Weg zu einer lichtlosen Erfahrung in einem komplett abgedunkel­ten Speisezimm­er.

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