Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Das Auge isst nicht mit
Dunkelrestaurants haben in ganz Deutschland starken Zulauf – Ein Besuch in der Biberacher Sinn-Welt
BIBERACH - „Ist das Essen heiß?“, fragt jemand, als alle vorab aufgefordert werden, Bedenken zu äußern und Fragen zu stellen. „Ja klar, aber verbrennen tun Sie sich nicht.“Sara Sigg lässt den elf Besuchern Zeit. „Was passiert, wenn ich etwas umwerfe?“– „Dann warten Sie einfach, wir helfen Ihnen. In zehn Jahren ist erst einmal ein Glas runtergefallen.“Das beruhigt erst mal, genau wie die Zusicherung „Wenn’s Ihnen da drin nicht gut geht, begleiten wir Sie jederzeit hinaus.“Der Aperitif wird noch im Hellen eingenommen. Aufgekratzte Stimmung, keiner war bisher bei einem Dunkelessen. Gezwungen worden ist auch niemand. „Das fragen wir immer“, erklären die SinnWelt-Mitarbeiterinnen hinterher, „es ist ganz wichtig für uns, damit wir vorab wissen, wenn sich jemand nicht darauf einlassen will oder kann.“Und dann verkünden Sara Sigg und ihre Kollegin Barbara Mayr die oberste Regel. „Sitzen bleiben – wir bedienen immer von rechts und Ihre Gläser stellen Sie am besten auf zwölf.“Keine weiteren Fragen. Kurz bevor’s ernst wird, sammeln die beiden noch Handys, Brillen und Uhren ein, schicken die Gäste aufs Klo und geben noch einen letzten wichtigen Rat: „Wem’s zu laut wird, der macht einfach ‚Pscht’.“Dann werden Augenklappen verteilt, und im Gänsemarsch geht’s blind durchs Museum, treppauf, die Hände auf den Schultern des Vordermanns.
Eine Art Erlebnisgastronomie
Sie heißen Unsicht-Bar, Zum blinden Engel oder Nocti vagus und sind Wirtschaften ganz besonderer Art. Fast jede größere Stadt in Deutschland hat ein Dunkelrestaurant, auch im Ausland steigt die Zahl. Fast keins klagt über zu wenig Zulauf. Manche Gäste, heißt es mitunter, kämen regelmäßig, zum einen natürlich wegen der guten Küche, zum anderen zur Auffrischung der Sinne. Und zum Dritten werden die Angebote immer skurriler. Es gibt bereits Hörtheater im Dunkeln und Krimi- sowie Gruseldinner. Ganz so abgefahren muss ein erster Besuch nicht sein, ein normales Drei-Gänge-Menü genügt.
In der Sinn-Welt in Biberach bedienen Sara und Barbara – ohne Nachtsichtgerät. Aber völlig im Dunkeln. „Das ist authentischer“, sagt Sara Sigg, „wir können uns so viel besser auf die Gäste einlassen.“Sonja Schelkle, pädagogische Leitung der Sinn-Welt, sieht das inzwischen ähnlich. Lange habe man jemanden mit einer Sehbehinderung gesucht, der die Gäste bedient, so wie es in vielen Dunkelrestaurants üblich ist. Aber es wurde niemand gefunden. Ihr ist klar, „dass den Mitarbeiterinnen hier viel abverlangt wird“. Das Restaurant hat gar keinen Namen, weil es nämlich gar keins ist. Hier heißt es einfach nur „Dunkelessen“und ist ein Teil des gesamten Sinn-Welt-Angebots, das die St.-Elisabeth-Stiftung im Jordanbad anbietet. Bekocht werden die Gäste an diesem Abend vom nahen Parkhotel Jordanbad. Etwa vier Termine gibt’s dafür im Monat, die Teilnehmerzahl ist auf 18 beschränkt, zehn Personen sollten es aber mindestens sein. Das Ganze findet direkt im Museum Sinn-Welt statt, wo die Besucher normalerweise singenden Steinen, optischen Täuschungen und fühlbaren Klängen auf der Spur sind. Gewidmet ist es den fünf Sinnen Hören, Riechen, Tasten, Schmecken und Sehen. Fällt einer weg, so heißt es, würden die verbleibenden stärker gefordert beziehungsweise überproportional gut ausgebildet. Klingt logisch.
Als jeder sitzt, werden die Augenbinden eingesammelt. Die Hände tasten vorsichtig auf dem Tischtuch herum. Ein Teller steht da, daneben Serviette, Besteck und zwei langstielige Gläser. An ihnen kann man sich wunderbar festhalten. Die Kehle ist ein bisschen trocken. „Bekomme ich Wasser?“„Das nehmt ihr euch selbst.“Sara Siggs Antwort wird zur Herausforderung. Langsam, bloß nichts umwerfen, die Finger berühren eine Flasche, wandern nach oben, da ist eine Serviette am Flaschenhals. Mal rein riechen: Rotwein. Vorsichtig ins Glas gießen. „Ich hab’ das Wasser und reich’s rüber, auf Augenhöhe“, sagt der Nachbar von schräg gegenüber, der sich als Thomas vorstellt. Was im Hellen selbstverständlich ist, wird jetzt zur Mutprobe. Kurzes Zusammenstoßen der Hände, dann wird die Flasche übergeben, es klappt, einfach so. „Haben sich alle zurechtgefunden?“Sara Siggs und Barbara Mayrs Stimmen sind anwesend. Sehr beruhigend. „Wir fassen Sie jetzt an der Schulter an.“Und dann geht es ganz unkompliziert, ein Teller kommt, von rechts. Nase runter, es riecht nach Essig. Finger drüber – Salat. Da reichen Gabel und für die feste, warme, nach Käse und Brot schmeckende Beilage, die Finger.
Zuvor wurde vereinbart, dass die Gruppe diesen Gang schweigend einnimmt. „Das ist nochmals intensiver“, hieß es. Stille, Kaugeräusche vom Nachbarn, Besteckkratzen auf den Tellern und dann ein Klirren. Unten. Thomas war’s nicht. „Wir machen das jetzt weg.“Schritte nähern sich, es wird gefegt, mehrmals, der Verursacher wird kurz von seinem Platz weggeführt. Ist der Geschmack intensiver? Riecht man besser? Weiß man überhaupt, was man vor sich hat? Schwer zu sagen. Beim Hauptgang wird es kompliziert. „Auf jeden Fall zwei verschiedene Fleischsorten“, sagt der Nachbar. Echt? Noch mal probieren – ja, da könnte er recht haben.
Dass man beim Verlust eines Sinnesorgans die brachliegenden Hirnteile für andere Sinneseindrücke nutzt, haben Wissenschaftler längst herausgefunden. Normalerweise ist das ein Prozess, der über viele Jahre geht. Also ist das Gehör nicht plötzlich besser, nur weil kurz das Sehen wegfällt. Klaus Peters vom Blindenund Sehbehindertenverband in Stuttgart ist sich sicher: „Wir hören und schmecken nicht besser, sondern sensibler.“Auch bei der Theorie, dass man sich in Blinde und Sehbehinderte durch Aktionen wie Dunkelessen besser hineinversetzen könne, ist er skeptisch. „Das hat mit unserem Alltag wenig zu tun“, meint der hochgradig Sehbehinderte. Allein schon die Tatsache, dass Blinde normalerweise immer unter Beobachtung stünden und sich ihre Situation ständig ändere, mache einen Vergleich schwierig. Peters spricht deshalb von „zwei schönen Stunden Selbsterfahrung“und davon, „dass Sehbehinderte und Sehende ja bei so etwas ganz andere Grundvoraussetzungen mitbringen“. Erstere seien zum Beispiel im Umgang mit Messer und Gabel „deutlich geschickter“.
Tatsächlich erstaunlich und gleichzeitig faszinierend ist aber das Gefühl des Ausgeliefertseins. Die Tatsache, „dass sich durch das Zulassen von Emotionen das Gefühl für die Präsenz des gefühlten Moments verstärkt“– wie es in der Psychologensprache heißt – ist deutlich spürbar. Sonja Schelkle, pädagogische Leiterin der Sinn-Welt, erklärt es mit Achtsamkeit, Vertrauen und Sicherheit. „Wer nicht bereit ist, in Körperkontakt zu gehen, Nähe zuzulassen und achtsam zu sein, der wird sich schwertun.“Aber wer die Augen nicht benütze, „die uns den Alltag sonst bis zu 70 Prozent erklären“, sagt Schelkle, müsse einfach aufmerksamer sein. Gruppendynamische Prozesse würden da manchmal in Gang gesetzt, Kommunikation sei gefragt und Teamarbeit.
Dunkelheit verbindet
Beim Dessert sind längst alle teamfähig. Die Stimmung ist gelöst, die Weinflaschen werden herumgereicht, Gelächter macht sich breit. Keiner sagt mehr ‚Pscht’, und als Orientierung genügt der sichere Rahmen von Tischtuch, Teller, Gläsern und allenfalls noch der Fußkontakt zum Gegenüber. Schokoladenmousse, Kuchen in Zitronensoße, irgendwas mit Vanille. Dass man die Finger zum Leerschlecken nimmt, sieht ja keiner. Die Bedienungen sind die wahren Dunkelprofis. Sie bekommen das Essen auf einem Wagen hereingeschoben, kennen jeden Schritt der Kollegin und bleiben schön auf ihrer Seite des Tisches.
Als ein Streichholz aufflackert, ist der Zauber vorbei. Staunen, umsehen, abwägen. Auch Ernüchterung. Im Wasserglas ist Rotweinschorle, die Zitronensoße ist dunkelrot, und Thomas ist gar nicht der lange Dünne mit dem karierten Hemd, für den man ihn gehalten hat. Zum Glück ist noch viel Zeit für Gespräche nebst einer kulinarischen Aufklärung vonseiten des Koch.