Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Ein gläserner Hauptbahnhof für München
Für Hunderte Millionen Euro entsteht ein neues Empfangsgebäude – Es gibt Kritik an den Plänen, und der Zeitplan wackelt
- Für dieses XXL-Projekt hat sogar der FC Bayern Platz machen müssen – und das sagt in München eigentlich alles. Genau genommen war es ein Fanshop des FußballRekordmeisters, der im vergangenen Sommer im Zwischengeschoss des Hauptbahnhofs für immer seine Türen geschlossen hat, genauso wie ein Bäcker, eine Drogerie und andere Geschäfte. Der kollektive Auszug war der erste sichtbare Vorbote, dass es nun endlich losgeht mit dem Neubau des Bahnhofs. Mit der zweiten Stammstrecke. Kurzum, mit einem der größten Bahnhofsprojekte in Europa.
Ein „modernes, leistungsfähiges Verkehrsterminal“soll anstelle des bisherigen Bahnhofs entstehen. So sagt es Iris Ludwig hier im Info-Cube, wie die bis zur Schmerzgrenze anglophile Deutsche Bahn jenen begehbaren Würfel zwischen Gleisund Schalterhalle getauft hat, der die Reisenden im Münchner Hauptbahnhof umfassend über die geplanten Arbeiten informiert. Ludwig ist Projektentwicklerin bei der Bahn und begleitet die Pläne für den Bahnhofsneubau seit rund zehn Jahren. Diese umfassen nicht nur die Errichtung eines komplett neuen Empfangsgebäudes, sondern auch den Neubau des Starnberger Flügelbahnhofs sowie die Neugestaltung der Bahnhofsvorplätze. Kostenpunkt: „ein hoher dreistelliger Millionenbetrag“, sagt Ludwig.
All diese Vorhaben sind freilich aufs Engste verwoben mit einem weiteren Großprojekt der Bahn, ohne das es den neuen Hauptbahnhof in dieser Form nicht geben würde. Gemeint ist die zweite Stammstrecke für die notorisch überlastete S-Bahn in München. Für anvisierte 3,2 Milliarden Euro (plus 650 Millionen Euro Risikopuffer) soll unter dem Stadtzentrum eine weitere Ost-West-Verbindung geschaffen werden mit den neuen Stationen Hauptbahnhof, Marienhof (nördlich des Marienplatzes) und Ostbahnhof. Im April 2017 stapelten ein halbes Dutzend Politiker und Bahn-Vorstände ihre Hände auf einem roten Knopf, um symbolisch den Startschuss für den Bau der zweiten Stammstrecke zu geben. Der war ja eigentlich schon 16 Jahre zuvor beschlossene Sache, ehe Umplanungen, Klagen und Finanzierungsprobleme zu gewaltigen Verzögerungen führten. Nun aber gehe es endlich los, und 2026 würden die ersten SBahnen durch die neuen Tunnel rollen, kündigte die Bahn damals an – ein Termin, der inzwischen bedenklich wackelt. Doch dazu später.
Zurück in den Info-Cube und zu Iris Ludwig, die anhand eines Modells erläutert, wie der Bahnhof seine neue Gestalt erhalten soll. Im Mai werde es hier so richtig losgehen, sagt sie und zeigt mit dem Finger in Richtung Schalterhalle. Diese werde dann abgeriegelt, eine Schallschutzwand am Übergang zur Gleishalle werde hochgezogen. Danach werde die sichtlich in die Jahre gekommene Schalterhalle abgerissen und an ihrer Stelle eine gewaltige Baugrube ausgehoben. In dieser soll der neue unterirdische S-Bahnhof für die zweite Stammstrecke entstehen, der sogenannte Nukleus. Noch während die Arbeiten dort unten in 40 Metern Tiefe laufen, wird parallel dazu mit dem Bau der neuen Eingangshalle begonnen. Sie überspannt gewissermaßen den Nukleus und ist Teil des siebengeschossigen und rundum verglasten Empfangsgebäudes, dessen Entwürfe vom Münchner Büro Auer und Weber stammen. Der Komplex erstreckt sich entlang beider Seiten des Hauptbahnhofs; im Norden geht er dabei nahtlos über in den Neubau des Starnberger Flügelbahnhofs, an dessen Ende sich ein Büroturm 70 Meter in die Höhe schrauben soll.
„Ein Bahnhof ist oft das Erste, was Reisende von einer Stadt zu sehen bekommen“, sagt Iris Ludwig und lässt ihren Blick durch die Schalterhalle schweifen – ganz so, als stehe sie zum ersten Mal hier. „Und im jetzigen Zustand macht der Hauptbahnhof nicht unbedingt den besten Eindruck.“Vielmehr sei der Bau in die Jahre gekommen und – abgesehen von der denkmalgeschützten Gleishalle – ein „Flickwerk“, findet Ludwig. „In den vergangenen Jahrzehnten ist hier ein bisschen was und dort ein bisschen was gemacht worden. Jetzt soll es endlich eine ganzheitliche Lösung geben.“
Diese stößt bei einigen Münchnern jedoch auf Kritik. Am lautstärksten wettert die kleine aber gut organisierte Initiative Münchner Architektur und Kultur gegen die Pläne aus dem Hause Auer und Weber. Ein „überdimensionierter Kaufhauskomplex“entstehe hier im Herzen der Stadt, kritisiert deren Vorsitzender Karl Hofmann. „Das ist eine städtebauliche Entgleisung ersten Ranges.“Die beiden obersten, überhängenden Geschosse des geplanten Neubaus stören den pensionierten Verwaltungsjuristen besonders stark: „Das sieht aus wie ein Sargdeckel.“
Hofmanns Initiative plädiert dafür, den Hauptbahnhof zu sanieren statt abzureißen. Sie hat dazu ein Gutachten erstellen lassen, wonach der gesamte Komplex – und nicht nur die große Gleishalle – denkmalschutzwürdig sei. Nun überlege man, beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof Klage einzureichen, sagt Hofmann.
Die Erfolgsaussichten dürften jedoch eher gering sein. Ohnehin sind die kritischen Stimmen im Fall des Bahnhofneubaus in München in der Minderheit. Es fehlt eine so heftige Auseinandersetzung wie bei Stuttgart 21. „Es wird immer Leute geben, die es nicht gut finden, wenn ein altes Gebäude abgerissen wird“, sagt Iris Ludwig von der Bahn. „Aber wir brauchen hier im Hauptbahnhof, den 450 000 Menschen täglich nutzen, ein leistungsfähiges Verkehrszentrum. Und das können wir in diesem Fünfziger-Jahre-Kasten nicht darstellen.“
Voraussichtlich 2023 soll mit dem Abriss des Starnberger Flügelbahnhofs begonnen werden. Und die neue Empfangshalle? „Da ist der Baubeginn zwei Jahre vor der Inbetriebnahme der zweiten Stammstrecke“, sagt Ludwig. Was sie nicht sagt: Der hierfür ursprünglich anvisierte Termin 2026 gilt inzwischen als kaum mehr zu halten – auch wenn die Bahn offiziell noch daran festhält.
Doch erst kürzlich wurde bekannt, dass sich die Fertigstellung der zweiten Stammstrecke um zwei Jahre verzögern könnte – dass also erst 2028 Züge rollen. Hintergrund sind die Pläne der Stadt München für eine U-Bahnlinie 9, die in Nord-SüdRichtung die U3 und U6 entlasten und unter anderem den Hauptbahnhof anfahren soll. Dort wiederum müsste die Bahn dann im Zuge ihrer Bauarbeiten gleich noch den Rohbau für eine künftige U-Bahnstation errichten. Und das wiederum könnte zu erheblichen Verzögerungen führen, was die zweite Stammstrecke anbelangt. „Es läuft gerade eine Machbarkeitsstudie, wie sich eine U9 auf den Zeitplan der zweiten Stammstrecke auswirken würde“, sagt dazu eine Bahnsprecherin.
Was einen direkt zurück in den Info-Cube bringt, wo gerade – Iris Ludwig hat sich zwischenzeitlich verabschiedet – zwei junge Reisende interessiert das Modell des neuen Hauptbahnhofs beäugen. „Schaut gar nicht schlecht aus“, sagt der eine. Darauf der andere: „Jetzt wart erst mal ab, wann das alles wirklich kommt.“
„Ein Bahnhof ist oft das Erste, was Reisende von einer Stadt zu sehen bekommen.“
Projektentwicklerin Iris Ludwig
„Das ist eine städtebauliche Entgleisung ersten Ranges.“
Kritiker Karl Hofmann