Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Meine Oma, ich als Kind und ein Märchenbuch
Ich zähle mich selbst zur Gattung „Leseratte“. Nicht ohne Grund habe ich neben dem Studium der Politikwissenschaften eben auch germanistische Literaturwissenschaften studiert. Als Kind war mein Leseverhalten noch ausgeprägter. Ich habe alles verschlungen, was ich in die Finger bekam. Meine sechs Jahre ältere Schwester diente mir dabei oft als Vorbild. Was sie las, wollte ich auch lesen. Das war natürlich doppelt praktisch, denn so kamen Bücher auch richtig in die Benutzung. Zudem konnte man danach über ein gelesenes Werk sprechen. Das schaffte Gemeinsamkeiten. Häufig ist es heute immer noch so.
Vom Vorlesen berichtet mir wiederum meine Oma häufig. Sie schwelgt gerne in alten Zeiten. Ich auch gerne mit ihr. Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich mich in den Aussagen von Tanja Ciborovius selbst erkenne. Meine Großmutter berichtet mir nämlich stets, dass ich eine Vorliebe für ein Märchen hatte. Immer wieder sollte sie dieses Märchen vorlesen, obwohl ich es schon auswendig kannte: der Teufel mit den drei goldenen Haaren. Auch wenn ich mich heute nicht mehr an die Details des Märchens erinnere, dafür aber umso stärker an ein Gefühl. Jenes Gefühl, wenn ich mit meiner Oma auf der Hängeschaukel saß und ihrer Stimme lauschte. Noch heute ist es mir mit dieser Erinnerung ganz wohl. Ich fühlte und fühle mich geborgen.
Deswegen finde ich es erschreckend, zu hören und zu lesen, dass Eltern und Großeltern teilweise kaum noch vorlesen. Auf der anderen Seite erstaunt es mich nicht. Heute leben die Generationen nicht mehr unter einem Dach. Viele Kinder sehen ihre Großeltern nur sporadisch. Gefühlt wird der Alltag immer schneller. Immer weniger Zeit bleibt. Deswegen ist es gut, sich – soweit das geht – auf das Wesentliche zu besinnen und einen Gang zurückzuschalten, sich wieder die Zeit zu nehmen – für sich und seine Liebsten.