Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Freiheit für Verbrecher, aber nicht für Journalisten
Türkisches Parlament beschließt umstrittene Amnestie wegen Coronavirus – Opposition will dagegen klagen
ISTANBUL - In den überfüllten Gefängnissen der Türkei wird das Coronavirus zur tödlichen Gefahr. Drei Häftlinge sind an der Lungenkrankheit Covid-19 gestorben, weitere Insassen und auch Vollzugsbeamte sind nach Angaben des Justizministeriums infiziert. Um die Ausbreitung des Virus hinter Gittern zu bremsen, beschloss das Parlament in Ankara in der Nacht zum Dienstag eine Amnestie, die fast 100 000 Häftlingen die Freiheit bringen und damit die Gesamtzahl der Gefängnisinsassen im Land um ein Drittel reduzieren soll. Doch während Betrüger und teilweise sogar Gewaltverbrecher freikommen, bleiben regierungskritische Journalisten, Intellektuelle und Oppositionspolitiker als angebliche „Terroristen“weiter in Haft.
„Sie verzeihen der Mafia und den Verbrecherbanden“, sagte der Abgeordnete Turhan Aydogan von der Oppositionspartei CHP in der fast einwöchigen Parlamentsdebatte an die Regierung gerichtet. „Aber den Journalisten, die die Wahrheit schreiben, und den Menschen, die sich für den Frieden einsetzen, verzeihen Sie nicht.“Aydogan rief die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan auf, zusammen mit der Opposition eine faire Regelung zu finden.
Der Appell wurde ignoriert. Mit ihrer Mehrheit in der Volksvertretung schmetterte das Bündnis aus Erdogans Regierungspartei AKP und der rechtsnationalen MHP alle Änderungsanträge der Opposition gegen das Amnestiegesetz ab. Auch Erdogan lobte den Parlamentsbeschluss. Die Häftlinge, die von den neuen Strafnachlässen profitieren, werden nun entweder ganz entlassen oder in den Hausarrest überstellt. Freikommen sollen auch alte und kranke Gefangene.
Das gilt aber nicht für alle. Weil die türkischen Gesetze die Verfolgung kritischer Äußerungen ohne Gewaltaufruf als „Terrorismus“erlauben, sitzen viele Regierungskritiker im Gefängnis, die „lediglich ihre Meinung geäußert haben“, wie Amnesty International nach der Parlamentsentscheidung kritisierte. Deshalb kommt zum Beispiel der 70-jährige Schriftsteller Ahmet Altan, ein prominenter Erdogan-Gegner, trotz seines hohen Alters nicht frei. Auch der Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas bleibt in Haft, obwohl er nach Angaben seines Arztes wegen Bluthochdruck und einer chronischen Atemwegserkrankung besonders anfällig für das Coronavirus ist.
Von der Amnestie ausgenommen sind zudem Tausende Gefangene, die als mutmaßliche Anhänger des Predigers Fethullah Gülen in Haft sind. Die Regierung macht die Gülen-Bewegung für den Putschversuch von 2016 verantwortlich; mitunter reicht schon ein Konto bei einer Bank aus dem Umkreis der Bewegung als Haftgrund aus. Auch Untersuchungshäftlinge, die ohne Gerichtsurteil im Gefängnis sind, bleiben hinter Gittern.
Bis zur letzten Minute suchte die Regierung der Opposition zufolge nach Wegen, so viele mutmaßliche
Gegner wie möglich von der Freilassung auszuschließen. So wurde vor der Schlussabstimmung noch ein Passus in das Gesetz eingefügt, mit dem Vergehen gegen den Geheimdienst MIT vom Straferlass ausgenommen wurden. Vor Kurzem hatte die Justiz mehrere Journalisten festnehmen lassen, die über den Einsatz von MIT-Agenten im nordafrikanischen Bürgerkriegsland Libyen berichtet hatten. Auch diese Beschuldigten müssen in Haft bleiben.
Diese Ungleichbehandlung wird nun zum Thema für das Verfassungsgericht. Die oppositionelle CHP kündigte eine Klage an. Der Rechtsexperte Adem Sözüer sagte voraus, das Gericht werde wohl anordnen, den Kreis der freizulassenden Häftlinge zu erweitern.
Regierungsgegner sind dennoch pessimistisch. Allein im März seien 22 Journalisten in der Türkei festgenommen worden, sagte der Rechtspolitiker Mustafa Yeneroglu dem türkischen Programm des russischen Senders Radio Sputnik. Yeneroglu, der kürzlich aus Erdogans AKP ausgetreten war und nun die neue Oppositionspartei DEVA im Parlament vertritt, ist sicher, dass der Druck auf Andersdenkende weiter wachsen wird: „Die Gefängnisse werden geleert, um sie anschließend wieder zu füllen.“