Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Als das Barfüßerkloster weichen musste
Die Zeit, als am Münster weitergebaut wurde und der Münsterplatz in Planung war
ULM - Darf ich Ihnen Ulrich vorstellen? Während der Sommerferien will Sie der Eisenwarenhändler durch das alte Ulm der Vorkriegszeit begleiten. Dabei dürfen wir davon ausgehen, dass Ulrich ein stolzes Alter erreichen wird: Seine ersten Eindrücke stammen aus den 1860er-Jahren, während er als Greis eine letzte Runde durch sein noch unzerstörtes Ulm drehen wird. Zur besseren Orientierung sind den alten Bildern, die aus dem Buch „Das Ulmer Stadtbild“von Hellmut Pflüger (Weißenhorn, 1964, 1982) reproduziert sind, aktuelle Aufnahmen aus derselben Perspektive beigeordnet.
„Nun wird es endlich einmal Zeit, dass ich mir zumindest die nähere Umgebung etwas genauer ansehe.“Seit Ulrich vor einem Jahrzehnt nach Ulm kam, hatte er kaum einen freien Tag. Zu sehr beanspruchte ihn die Tätigkeit in der Eisenwarenhandlung, deren Inhaber er geworden war. Und wenn er sich mal etwas Muße gönnte, so las er Bücher. Vor allem die Ulmer Stadtgeschichte und die Beschreibung der Bauwerke haben es ihm angetan.
Außerdem lernte der Kaufmann ein nettes Mädchen kennen: Anna, eine bildhübsche Ulmerin, alteingesessen und intelligent. Das Wetter ist frühlingshaft warm, als die beiden jungen Leute den Münsterplatz überqueren; hektische Betriebsamkeit ist auf der weiten Fläche. Vor einigen Jahren hatte man wieder begonnen, an der großen Kirche zu bauen. In hellem Stein ragten an Nord- und Südschiff eine Vielzahl kleiner Türmchen empor, die mit dem höher aufragenden Hauptschiff durch ornamentale Bögen verbunden wurden. Anna staunt nicht schlecht, als ihr Ulrich die Baumaßnahmen erläuterte: Die Strebebögen und -pfeiler haben den Zweck, die tonnenschwere Last des Gewölbes abzuleiten. „Was meinst du, was da für ein Schub darauf liegt“, gibt Ulrich seiner Freundin zu bedenken. Die Aufnahmepunkte für das Strebewerk und somit der Stabilisierung wurden im ausgehenden Mittelalter vorbereitet, so Ulrich weiter, aber dann kam die Reformation; die Gotik hatte ihren Höhepunkt überschritten und so blieb das Münster all die Jahrhunderte unfertig. Demnächst sollen gar zwei Chortürme angefügt werden. Anna findet, dass die zierlichen Türmchen und Bögen der
Kirche etwas Leichtes und gleichzeitig etwas Edles verleihen.
Ulm ist eine Stadt im Wandel. Reichsgründung und Industrialisierung leisteten mächtig Vorschub. Die alten Stadtmauern waren durchbrochen, neue Viertel angelegt und nahezu an allen Ecken und Enden wurde gebaut und abgerissen. Über Letzteres zu sinnieren begann Ulrich, als er vor dem ehrwürdigen Barfüßerkloster stand. Ja natürlich, der Bau beeinträchtige vielleicht die Wirkung des Münsterplatzes. Wenn nun die große Kirche Schritt für Schritt weitergebaut werde, gar irgendwann der Hauptturm zur Vollendung käme, wolle man die Fortschritte auch dem Publikum sichtbar machen. Es soll wohl künftig nichts mehr den Blick auf das Münster verstellen. Zu einem mächtigen Bauwerk gehöre wohl ein großer, freier Platz, erklärt sich Ulrich das Vorhaben.
Die Klosterkirche nebst den dazugehörenden Gebäuden solle nämlich demnächst abgerissen werden. Dabei würde doch der gotische Chor mitsamt seinem spitzen Dachreiter optisch hervorragend zum Münster passen. Ja natürlich, der Orden der Franziskaner hatte Ulm schon lange verlassen, bereits 1531 wurde Ulm evangelisch. Dennoch blieb die Barfüßerkirche noch lange ein Gotteshaus.
Erst in napoleonischer Zeit errichtete die Stadt darin eine Zollhalle sowie einen Lagerraum. Hierzu wurde am Chorhaupt ein großes Tor eingefügt, durch welches die Waren bewegt werden konnten. Anna fällt dazu ein, dass ihr Vater früher in die Lateinschule gegangen war, die sich in den ehemaligen Klostergebäuden befand. Zugegebenermaßen tun sich Ulrich und auch Anna schwer, sich den Platz, das gewohnte Bild, ohne das Barfüßerkloster vorzustellen. „Wer weiß, was da eines Tages wieder errichtet wird“, mutmaßt Ulrich beim Weitergehen.
Wohl soll noch das ein oder andere dem Zeitgeist weichen, habe Anna die Leute sagen gehört. Repräsentative Bauten seien gefragt. Das Reich und somit auch die Stadt wolle ihre stolze Vergangenheit zeigen. Historismus nenne man das wohl. Ulrich hatte auch schon von der neuen architektonischpolitischen Strömung gehört. „Du wirst sehen“, sagt er zu seiner Freundin abends auf dem Nachhauseweg, „in einigen Jahrzehnten wirst du unsere Stadt nicht mehr wiedererkennen“.