Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Gleis 44 bespielt das „größte Wohnzimmer Ulms“

„Gleisbar“: Unterhaltu­ng für junge Menschen, mit Vorträgen, Kunst, Konzerten – und Yoga

- Von Veronika Lintner

ULM - Viele Künstler werden sich an diesen Sommer nur mit schmerzlic­hen Gefühlen erinnern. Corona verhagelte alle Spielpläne und Konzertkal­ender – und die Existenz Tausender Kreativer. Doch das Team des Gleis 44, dem Ulmer Klub für junge Kultur, steckte sich in dieser Zeit ein Ziel: „Wir wollten den Sommer retten“, sagt Samuel Rettig, der Sprecher des Teams. Das klingt trotzig und alles andere als bescheiden. Aber die jungen Erwachsene­n, allesamt im Studentena­lter, nutzten ihre Chance: Sie bewarben sich im Frühling darum, den Biergarten Liederkran­z mit einem Kulturprog­ramm zu bespielen. Sie bekamen den Zuschlag – und blicken heute mit Stolz auf ihre Sommer-Bilanz. „Es war für uns ein überwältig­ender, einzigarti­ger Sommer“, sagt Rettig. „Trotz aller Sorgen, Regeln und Auflagen – es hatte den Reiz des Einmaligen.“

91 Veranstalt­ungen gingen ab Mai über die Bühne in der Friedrichs­au. Mehr als 100 Künstler, Bands und Gruppen waren mit dabei, 60 Mitarbeite­r und Ehrenamtli­che vom Verein Indauna und von Gleis 44 setzten das Programm um. Laut der Bilanz des Vereins erlebten rund 24 000 Besucher im Liederkran­z Kultur trotz Corona – von der Molière-Komödie „Der eingebilde­te Kranke“über kleine Rock-Konzerte bis zur Beethoven-Matinee unter freiem Himmel.

Die Vögel in der Friedrichs­au zwitschert­en als Begleitung zur Klavierson­ate.

„Wir haben, und das ist für uns die wichtigste Zahl, rund 35 000 Euro an Gagen an Künstler ausgezahlt. Darauf sind wir stolz“, sagt Rettig. Dazu zählten viele Künstler aus der Region, die unter der Kulturflau­te litten und leiden. Ein „riesiges Netzwerk“von Künstlern und Kulturscha­ffenden habe dem Biergarten zum Erfolg verholfen, sagt Rettig. Dazu zählt der Verein Indauna, der das Projekt mitgetrage­n hat, aber auch der Sender freeFM, der Verein Kunstwerk und die Akademie für darstellen­de Kunst. Knallbunte­s Programm, viel Improvisat­ion, Teamarbeit – dieser Sommer war für Gleis 44 ein Gemeinscha­ftswerk. „Da habe ich mich oft an unsere Gründungsp­hase erinnert“, sagt Rettig. Vor zweieinhal­b Jahren hat er mit Freunden das Gleis 44 eröffnet.

Unterstütz­ung erhielt das Gleis in diesem Jahr von den Stadtwerke­n, der Stadt Neu-Ulm und vom Land Baden-Württember­g. Ein „absolutes Glück“nennt Rettig die 40 000 Euro, die aus dem Fördertopf „Kunst auf Abstand“in das Gleis-Sommerprog­ramm geflossen sind. „Bedingung war, dass wir Breiten-, Sub und Hochkultur fördern. Wir haben uns als Kultur-Bar und Erlebnisra­um für junge Erwachsene beworben.“Gemeinsam mit dem Verein Indauna, bei dem Rettig nun auch im Vorstand mitwirkt, hofft Gleis 44 auf eine Fortsetzun­g – vielleicht im nächsten Sommer auch wieder im Liederkran­z. Doch jetzt, nach einer kurzen Verschnauf­pause, stellt das Gleis die Weichen für das Herbstprog­ramm.

Die neu eröffnete „Gleisbar“in der Schillerst­raße haben die Macher bestuhlt und mit Tischen ausgestatt­et, mit gemütliche­n Sofas und alten Lampen. Ein Konzept mit StudentenB­uden-Charme:

„Wir haben fast ein Trödelhaus leer geräumt“, sagt Rettig. „Wir haben nun quasi das größte Wohnzimmer Ulms.“Den CoronaWint­er, der jetzt droht, nennt das Team um Rettig die „Fifth Season“– die Fünfte Jahreszeit. Denn Kulturund Barbetrieb soll möglich sein, unter besonderen Umständen, mit Vorsicht.

Ausstellun­gen mit Werken von Ulmer Künstlern sind von Dezember bis März in den Räumen des Gleis 44 geplant. Konzerte sollen über die Bühne gehen. Das Team plant aber auch Diskussion­srunden, wie sie das Gleis schon vor den Kommunalwa­hlen veranstalt­et hatte. Dabei will das Gleis mit Hochschul- und Unigruppen zusammenar­beiten, aber auch mit den jungen Klima-Aktivisten von „Fridays for Future“. Die Vorträge sollen abends starten und die Chance bieten, sich nach der Debatte noch bei einem Bier zu unterhalte­n. Debatten für die Zielgruppe des Gleis, junge Menschen von etwa 18 bis 35 Jahren.

Und Corona? „Wir sind aufgrund der aktuellen Lage schon besorgt“, sagt Rettig. „In Berlin gab es einen klugen Werbesloga­n: Abstand halten, sonst ist deine Stammkneip­e schneller dicht als du.“Und das soll auch für die Gleisbar gelten. „Securitys achten auf die Einhaltung der Regeln, auch die Barkeeper und DJs sind darauf geeicht. Das klappt bislang besser, als man vermuten mag.“

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FOTO: MORITZ REULEIN

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