Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Neues Leben auf alten Gleisen
Auf vielen stillgelegten Bahnstrecken könnten im Südwesten wieder Züge rollen
STUTTGART - Er will „stillgelegte Gleise wachküssen“– das sagte Südwest-Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) am Dienstag während einer Online-Konferenz. 42 ehemalige Bahnstrecken in Baden-Württemberg hat das Verkehrsministerium dafür untersuchen lassen. Das Ergebnis dieser Studie hat Hermann nun vorgestellt. Die Aussichten für sieben untersuchte Strecken in der Region sind durchwachsen.
Worum genau geht es?
„Wir wollen den Klimaschutz im Verkehrssektor endlich stärken – das bedeutet auch eine Stärkung der Schiene“, erklärte Hermann das Vorhaben, das er vor knapp zwei Jahren angestoßen hat. Das Ministerium hat die Beratungsfirma PTV Transport Consult aus Karlsruhe damit beauftragt, das Potenzial von 42 stillgelegten oder abgebauten Trassen zu untersuchen. Wichtigster Faktor ist das Potenzial an Fahrgästen.
Welche Strecken haben Potenzial?
Das Gutachten unterteilt die Strecken in vier Kategorien. In der Kategorie A landeten zwölf Trassen mit sehr hohem Potenzial, weil auf ihnen pro Schultag wohl mehr als 1500 Fahrgäste unterwegs sein werden. In die Kategorie B haben es zehn Strecken mit 750 bis 1500 geschafft. 500 bis 750 Fahrgäste pro Schultag bedeuten eine mittlere Nachfrage. In dieser Kategorie C landeten auch zehn Strecken. Weitere zehn Strecken liegen unter dieser Schwelle in der Kategorie D.
Wie verlässlich sind diese Zahlen, und sind sie ein guter Maßstab?
Unsicherheiten bei Prognosen gibt es immer. Deshalb habe das Ministerium die Latte auch bewusst niedrig angesetzt, erklärte Gerd Hickmann, zuständiger Abteilungsleiter im Ministerium. Bundesweit werde eine Bahnstrecke dann als lohnenswert angesehen, wenn die Marke von 1000 Fahrgästen überschritten werde. Das Ministerium sieht schon auf Strecken mit 750 Zugfahrern ausreichend Potenzial.
Wie bewertet die Studie Strecken in der Region?
Sieben der 42 Bahnstrecken liegen in der Region. Keine hat es in die Kategorie A geschafft. Für zwei Strecken erwarten die Gutachter aber ein hohes Aufkommen an Fahrgästen (Kategorie B). Demnach hat die Ablachtalbahn zwischen Stockach und Mengen mit erwarteten 830 Fahrgästen gute Aussichten. Die gut 30 Kilometer lange Strecke ist seit 1972 stillgelegt. Gleiches gilt für die Bahntrasse zwischen Krauchenwies und Sigmaringen, die im Gutachten als Ablachtalbahn-Erweiterung bezeichnet wird. Diese knapp zehn Kilometer lange Strecke wurde 1969 stillgelegt, die Gleise sind abgebaut.
Zwei Strecken entlang der AlbBahn haben laut Studie ein mittleres Potenzial (Kategorie C). Das gilt zum einen für die 41 Kilometer Schiene von Engstingen über Münsingen nach Schelklingen, die seit 1969 für den Personenverkehr stillgelegt sind. Hier werden 600 Fahrgäste pro Schultag erwartet. Zum anderen gilt das für die knapp 20 Kilometer, die Gammertingen und Engstingen verbinden. Diese Verbindung soll eigentlich längst wieder für den Schülerverkehr genutzt werden. Doch es gab Probleme entlang der Strecke. Nach Monaten ohne Bahnverkehr sollen die Schwierigkeiten nun seit Montag behoben sein. Auf dieser Strecke prognostizieren die Gutachter 660 Fahrgäste.
Wenig Chancen auf eine Reaktivierung haben indes drei weitere Verbindungen. Betroffen ist die Räuberbahn zwischen Altshausen und Pfullendorf sowie die Strecke Leutkirch – Isny, für die jeweils lediglich 470 Fahrgäste prognostiziert sind.
Dasselbe gilt für die Roßbergbahn zwischen Roßberg und Bad Wurzach mit 420 erwarteten Fahrgästen.
Wie geht es nun weiter?
Die Botschaft von Minister Hermann ist deutlich: Am Zug sind nun die Kommunen – die Landkreise oder Interessensgemeinschaften aus Städten und Gemeinden entlang der Bahnstrecken. „Das sind 20, 25 Strecken, bei denen wir sagen können, da ist ein Potenzial da. Die Bedingungen sind so gut wie nie zuvor. Ich will Ihnen zurufen: Greifen Sie jetzt zu!“, so Hermann. Er spricht vom Windhundprinzip: Wer vor Ort schnell ist, bekommt Geld zur Reaktivierung. Für 100 Kilometer Strecke sei Geld bereits vorhanden.
Woher fließt wie viel Geld?
Für Strecken in den Kategorien A und B brauche es zunächst eine aktuelle Machbarkeitsstudie, erklärte Abteilungsleiter Hickmann. An den Kosten dafür beteiligt sich das Land mit 75 Prozent bis zu einem Maximalbetrag von 100 000 Euro. Für Trassen in der Kategorie C brauche es vor einer solchen Studie zunächst eine vertiefte Potenzialanalyse. Wenn die Strecke neu- oder ausgebaut wird, zahle der Bund bis zu 90 Prozent und das Land 57,5 Prozent der verbleibenden Kosten. Den Rest müssen die Kommunen vor Ort tragen. Das Land verspricht zudem, sich beim Betrieb der Züge zu engagieren. Für Strecken der Kategorien A und B finanziere das Land die Zugleistung und bestelle die Züge, so Hickmann. Auch Strecken der Kategorie C gingen nicht leer aus – dafür zahle das Land aber lediglich 60 Prozent der Betriebskosten.
Wie sind die Reaktionen?
Der CDU-Verkehrsexperte Thomas Dörflinger nennt das nun vorgestellte Konzept schlüssig. „Der Schlüssel, dass es funktioniert, ist die Ausweitung der Förderung vom Bund“, sagt er und betont, dass der Bund sich nun auch an den Planungskosten beteiligt. Dieser Kostenfaktor galt lange als abschreckend. Großes Lob gibt es vom Landesvorsitzenden des ökologisch ausgerichteten Verkehrsclub Deutschlands, Matthias Lieb. „Das Land ist sehr gut vorgegangen – gerade im Vergleich zu anderen Bundesländern.“Er begrüßt, dass sich das Land nicht am Schwellenwert von 1000 Fahrgästen bei seiner Förderstrategie orientiert. In Bayern sei diese Marke zum Politikum geworden. Das Gutachten zeige: „Es gibt viele Strecken, die stillgelegt sind oder waren, auf denen großes Potenzial besteht.“