Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Wie die Nazis ein Kochbuch raubten
Historikerin Karina Urbach kommt einem Diebstahl geistigen Eigentums auf die Spur
BONN (KNA) - Die Historikerin Karina Urbach kann nicht kochen. Deswegen, so sagt sie, habe sie sich auch nicht dafür interessiert, warum das Kochbuch „So kocht man in Wien!“bei ihnen in der Küche zweimal im Regal stand. Auf einem Exemplar wird ihre Großmutter Alice Urbach als Autorin auf dem Cover genannt, auf dem anderen ein Mann namens Rudolf Rösch.
Als sie vor einigen Jahren dem Drängen ihrer Cousine nachgab, die Geschichte der Großmutter zu recherchieren, kam die Historikerin einem dreisten Diebstahl geistigen Eigentums auf die Spur. Urbach thematisiert ihn in ihrem neuen Buch „Das Buch Alice. Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten“.
Alice Urbach (1886-1983) war eine klassische höhere Tochter, die sich zum Bedauern ihrer jüdischen Familie nicht als Wunderkind entpuppte. Aber sie konnte kochen – und zwar hervorragend. Sie machte Mitte der 1920er-Jahre eine erfolgreiche Kochschule auf, erfand zur Freude der Bridge-Spieler kleine Häppchen, für die man nicht die Karten aus der Hand legen musste, und richtete einen ersten Lieferdienst für Essen in Wien ein. Damit sicherte die früh verwitwete Urbach in der Zwischenkriegszeit den Unterhalt für sich und die beiden Söhne.
Mit ihrem erstmals 1935 veröffentlichten Kochbuch „So kocht man in Wien!“wurde sie auch als Autorin bekannt, doch währte ihr Ruhm nicht lange. Nach dem „Anschluss“Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 verloren die österreichischen Juden nicht nur ihre Bürgerrechte. Sie gingen auch ihres geistigen Eigentums verlustig. Die Folge: Der Münchner Ernst Reinhardt Verlag „arisierte“das Kochbuch und veröffentlichte es 1938 erneut – nun unter dem Autorennamen Rudolf Rösch.
„Nach dem Anschluss Österreichs sah ich mich genötigt, für das Kochbuch einen neuen Verfasser zu suchen, da Alice Urbach Jüdin war und das Kochbuch sonst nicht mehr hätte vertrieben werden können“, zitiert Karina Urbach den Verleger nach der Festschrift des Ernst Reinhardt Verlags aus dem Jahr 1974. „Auch wenn dieser Vorgang rechtlich nicht zu beanstanden war, bewerten wir das damalige Verhalten des Verlages heute als moralisch nicht vertretbar“, erklärte der Verlag jetzt in einem Statement.
Dieser Fall war keine Ausnahme, sondern die Regel, sagt die Historikerin Urbach. „Bis heute ist die Arisierung von Büchern nicht untersucht worden. Es gibt nicht einmal eine einheitliche Bezeichnung für den Vorgang.“Bei ihren Forschungen stellte sie fest: „Mit dem – sehr viel schwerer wiegenden – geistigen Diebstahl von Leistungen jüdischer Autoren und Herausgeber hat sich niemand beschäftigt. Es existiert noch keine Statistik über die ungefähre Zahl der Betroffenen.“
Alice gelang es noch rechtzeitig, Wien in Richtung England zu verlassen, mit einem Exemplar ihres Kochbuchs in der Tasche. Sie arbeitete als Köchin und unterhielt mit ihrer Freundin am Lake Windermere eine Unterkunft für jüdische Kinder und Jugendliche, die mit den Kindertransporten nach Großbritannien ausreisen konnten. Wie sich nach dem Krieg herausstellte, war es ein Waisenhaus, denn fast alle Kinder hatten ihre Eltern im Holocaust verloren. Auch drei Schwestern von Alice Urbach starben. 1946 emigrierte Urbach in die USA zu ihren Söhnen.
Nach dem Krieg versuchte die Kochbuchautorin mehrfach, wieder in ihre Urheberrechte eingesetzt und als Autorin auf den Nachkriegsausgaben genannt zu werden – vergebens. Auch in diesem Fall war das nicht die Ausnahme, sondern die Regel, fand die Historikerin heraus. Der Wunsch von Urbachs Nachfahren: „Das einzige, was wir noch immer erhoffen, ist, dass Alice nach über 80 Jahren von ihrem Verlag wieder zur alleinigen Autorin ihres Werks gemacht wird.“
Der Ernst Reinhardt Verlag hat sich dazu geäußert: „Insbesondere, dass das Kochbuch von Alice Urbach von 1935 dann auch in der Nachkriegszeit nicht wieder unter ihrem Namen weiter verbreitet wurde, ja dass nach 1945 keines der späteren Kochbücher mit ihrem Namen verknüpft wurde, bedauern wir sehr.“Und: „Wir haben ein großes Interesse daran, eine Lösung zu finden, die der Autorenschaft von Alice Urbach und dem Andenken an sie gerecht wird.“Karina Urbach hat das als einen großen moralischen Sieg zur Kenntnis genommen.
Karina Urbach: Das Buch Alice. Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten.
Propyläen Verlag, 432 Seiten, 25 Euro.