Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Mehr Mut zur Mündigkeit
Die repräsentative Demokratie stößt an ihre Grenzen – Nicht nur die US-Wahlen zeigen dies
Wenn nicht jede Stimme gleich viel zählt oder gewählte Repräsentanten vier Jahre lang nur so tun können, als erfüllten sie den Wählerwillen, hat das mit echter Demokratie nicht viel zu tun, sagt unser Autor und fordert mehr Mut zur Mündigkeit.
Es geht in der ersten Klasse schon los mit der Politikverdrossenheit: Natürlich weiß der ABC-Schütze das nicht so richtig, weil er dieses hässliche Wort noch gar nicht kennt. Aber er spürt doch alsbald, dass die Wahl eines Klassensprechers irgendwie nicht bedeutet, dass er damit Teil einer Macht ist, die zwischen Lehrerzimmer und Pausenhof irgend etwas zu sagen hätte. Und spätestens in der weiterführenden Schule weiß er ganz sicher, dass die Klassensprecherwahl nichts weiter ist als ein eitler Beliebtheitstest, den nicht die Fähigsten unter den Schülern gewinnen, sondern nicht selten jene mit dem stärksten Geltungs- und Profilierungsbedürfnis. Und vor allem: Der desillusionierte Pennäler lernt, dass Klassensprecher für Entscheidungen im Alltagsbetrieb einer Schule ungefähr so wirkungsvoll sind, wie die Hausmeister des Bundestags für die Gesetzgebung im Plenarsaal. Es kann also niemand ernsthaft verwundert sein, wenn manche Schüler höheren Jahrgangs bei solchen Alibi-Wahlen nur noch Zettel mit Fantasienamen drauf abgeben.
Das Schlimme daran ist: Die Schwächen unserer demokratischen Prozesse im größeren Format leiden an sehr ähnlichen Phänomenen und ziehen sich vom kleinsten Ortschaftsrat bis in den Bundestag. Dabei gibt es in Deutschland durchaus demokratische Institutionen, die dem Wort Demokratie auch wirklich genügen. Nehmen wir zum Beispiel das Wohnungseigentumsgesetz. Dort genießen die Eigentümer nach der Menge der Anteile, die sie durch den Kauf ihres Besitzes eingebracht haben, ein Mitbestimmungsrecht. Und zwar nicht durch eine abstrakte Wahl eines Vertreters, der ihre Interessen vielleicht wahrnimmt, wenn er Lust hat oder nicht anderweitig – zum Beispiel durch die Linie einer Partei – abzustimmen hat. Nein, der Eigentümer bestimmt mit, was und wie es instand gesetzt wird. Er hat mitzureden, wenn es um die Verpflichtung einer Hausverwaltung geht und darf sich in der floristischen Frage einbringen, welche Art von
Hecke um das Grundstück gepflanzt werden soll. Kurzum: Er trägt mit seinem Stimmrecht zur unmittelbaren Gestaltung bei und verliert nicht durch abstrakte Willenserklärungen über irgendwelche Vertreter, wie er letztendendes in einem gemeinschaftlichen Haus wohnt.
Wenn wir den Staat insgesamt als eine Art Haus begreifen, in dem jeder Bundesbürger einen kleinen Teil bewohnt, er also Element dieses Staates ist: Warum darf er dann – um im Bild des Wohnungseigentumsgesetzes zu bleiben – nur die Vertreter der Hausverwaltung wählen, noch dazu ausgestattet mit der absoluten Macht über das
Geld, das er über seine Steuern einbringt? Warum dürfen Miteigentümer der BRD nicht einmal bei den gravierendsten gesellschaftlichen Fragen mitentscheiden? Was ist das für eine Demokratie, in der wir zum Beispiel seit Jahrzehnten aus repräsentativen Umfragen ganz genau wissen, dass eine stattliche Mehrheit ein Tempolimit auf den Autobahnen will – sich aber keine Regierung, kein Ministerium davon inspiriert fühlt, diesen Willen auch in die Tat umzusetzen? Weil es dafür im Bundestag keine Mehrheit gibt, denn diese Bundestagsmehrheit ignoriert den dringenden Wunsch der Bevölkerungsmehrheit. Und entmündigt die Bürger an dieser Stelle, auch weil nicht wenige Volksvertreter fröhlich das Lied derer nachsingen, die auf der Achse der Automobilbauer zwischen Wolfsburg und Stuttgart ein Interesse daran haben, dass in Deutschland die Autobahn eben eine Rennbahn ohne Limit bleibt.
Vor diesem Hintergrund, der ja nur ein Beispiel ist, hat es immer einen merkwürdigen Beigeschmack, wenn in Sonntagsreden mit großem Stolz die demokratische Kultur in Deutschland gelobt wird. Dabei hat unsere Form der Demokratie in den vergangenen Jahrzehnten bei viel zu vielen Menschen ein Ohnmachtsgefühl entstehen lassen, das als idealer Nährboden dient, um darauf die Frucht extremistischer Knalltüten verschiedener Couleur aufgehen zu lassen. Das Fehlen der eigenen Wirkmächtigkeit lässt eine Sehnsucht danach entstehen, es „denen da oben“zu zeigen. Im Zweifel auch über das
Vehikel einer Partei, zu deren Inhalten man eigentlich gar nicht steht. Die aber etablierte politische Lager garstig gegen den Strich bürstet und damit als Rächer auftritt und mittelbar im Auftrag – bisweilen durchaus zu Recht – frustrierter Wähler den Regelverstoß gegen die bislang anerkannte politische Kultur zum Lebenszweck erhebt. Frei nach dem Motto, den Laden lieber komplett an die Wand fahren, statt so weiterzumachen wie bisher.
Aber natürlich geht es im Katalog der demokratischen Angebote noch schlimmer, etwa jenseits des Atlantiks, wo es allen Ernstes noch so ist, dass der Kandidat mit den meisten Stimmen die Wahl verlieren kann. Hallo? Im Land von Apple, Google und Facebook – den globalen Treibern einer zur heiligen Kuh hochgejubelten Digitalisierung – wird noch über den indirekten Weg mittels Wahlmänner abgestimmt. Als hinge die amerikanische Gesellschaft in einer Zeitschleife des 19. Jahrhunderts fest. Als gebe es immer noch ausschließlich Telegrafenmasten und kein Glasfaser. Darüber hinaus lässt sich die Wahlbeteiligung auch noch gezielt manipulieren, indem Demokraten wie Republikaner es durch das Abstecken von Bezirken und die Ausstattung von Wahllokalen lenken können, wie angenehm oder eben unkomfortabel die Stimmabgabe ist. Allein diese Praxis wäre bei uns in Deutschland schon verfassungswidrig. In Amerika wird diese operettenhafte Inszenierung von Demokratie stattdessen als das Beste gefeiert, was seit den alten Griechen in puncto Volksherrschaft im politischen Angebot ist. Wie verquer und reformbedürftig diese Haltung ist, zeigt schmerzhaft die gerade zu Ende gegangene US-Präsidentenwahl, die diese angeblich so großartige Demokratie an den Rand eines Bürgerkriegs gebracht hat.
Dabei gibt es mit der Schweiz ein demokratisches Land, das sich für einen anderen Weg entschieden hat, gewachsen aus einer langen Tradition. Das Instrument der Volksabstimmung, regelmäßig und planmäßig eingesetzt, vermindert dort das Gefühl von Ohnmacht und Wirkungslosigkeit. Zudem sind die Hürden verhältnismäßig niedrig, um als einzelner Bürger – wenn er sich mit ganzem Engagement in die Sache stürzt
– durch Unterschriftensammeln eine eigene Volksabstimmung anzustoßen. In seiner Gemeinde, im Kanton oder sogar auf landesweiter Ebene.
Freilich ist die plebiszitäre Kultur der Eidgenossen keine letztgültige Rückversicherung gegen populistische Einflüsterungen mit nationalistischer Schlagseite, wie das Beispiel Christoph Blocher mit seiner SVP zeitweilig sehr erfolgreich zeigte: Die Partei konnte bei Wahlen auf Bundesebene mit ihrer offen ausländerfeindlichen Abschottungspolitik schon knapp 30 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Doch für pegidahafte Montagsumzüge von Frustrierten wie in Dresden hat es in der Schweiz nie gereicht. Auch deshalb, weil das Bewusstsein für die aktive Beteiligung jedes einzelnen Stimmbürgers über bloße Parteilinien hinaus stark ist und vielleicht nicht vor Polarisierung, doch aber vor Spaltung schützt. Apropos Spaltung: Dass Teile der AfD in Deutschland Volksabstimmungen nach eidgenössischem Vorbild fordern, macht das Schweizer Demokratie-Modell nicht schlechter. Es zeigt nur, dass die AfD mit ihrer tendenziell demokratiefeindlichen Haltung nicht verstanden hat, dass mehr Demokratie am Ende weniger AfD bedeuten würde, weil die Partei mit realpolitischer Sacharbeit – und um die geht es in den eidgenössischen Volksabstimmungen grundsätzlich – noch nicht besonders aufgefallen ist.
Also: Direkte Demokratie in der Schweiz, ein Modell für uns? Geht nicht in einem so großen Land wie Deutschland, ganz zu schweigen von Amerika? Geht doch! Ich weigere mich zu glauben, dass eine demokratische Abstimmung über eine Sachfrage, alle paar Monate gestellt, nicht mit den technischen Mitteln von heute möglich sein soll. Während wir uns auf der anderen Seite fast täglich akribisch durch Produktbeschreibungen klicken, um unseren Konsumwillen dann in Online-Shops zu hinterlassen. An dieser Stelle könnte Digitalisierung zeigen, was in ihr steckt. Wenn demokratische Willensbildung und letztlich das Abstimmen so einfach und sicher wären wie das Bestellen bei Amazon, dann hätten die Verdrossenheit, das Gefühl der Fremdbestimmung, die faktische partielle Entmündigung, schnell ein Ende. Dass der Weg dorthin leicht wäre, hat niemand gesagt. Aber das sind die wenigsten Pfade, die zu wirklich großen Zielen führen. Man muss es nur wirklich wollen.