Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Erdogan, Europa und der Hebel
Kurz vor der Entscheidung der Europäischen Union über Sanktionen gegen die Türkei gibt es neuen Krach wegen der versuchten Durchsuchung eines türkischen Frachters auf Waffen für Libyen. Proteste aus Ankara verhinderten, dass Bundeswehrsoldaten der europäischen Irini-Mission das Schiff inspizieren konnten. Ob tatsächlich Rüstungsgüter an Bord waren, ist unbekannt. Doch der Zwischenfall war bereits die dritte Gelegenheit, bei der sich die Türkei gegen europäische Inspektionen auf See wehrte. Das stärkt das Lager jener EU-Staaten, die beim kommenden Gipfel am 10. und 11. Dezember eine harte Linie gegen Ankara fordern.
In den vergangenen Tagen hatte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mehrmals zu Europa bekannt. Die Zukunft seines Landes liege in Europa, sagte er. Die EU sollte sich davon allerdings nicht täuschen lassen. Erdogan gibt den Reformer, weil er Sanktionen vermeiden will. So will er den Zusammenbruch der Wirtschaft verhindern und seine Macht sichern. Die türkische Wirtschaftskrise gibt der EU einen Hebel in die Hand, mit dem sie wirksam Druck auf Erdogan ausüben kann – diese Gelegenheit sollte Europa auch nutzen.
Denn Erdogans versöhnliche Botschaften an Europa sind Taktik und nicht Ausdruck eines grundsätzlichen Wandels. Die türkische Regierung sieht Europa als Papiertiger, der nicht zu gemeinsamen und entschlossenen Schritten fähig ist. Die Europäische Union sollte der Türkei beweisen, dass dieser Eindruck falsch ist. Am besten wäre es deshalb, wenn die EU im Dezember die vorgesehenen Sanktionen gegen die Türkei beschließen und deren Umsetzung von konkreten Schritten der Türkei abhängig machen würde. Auf diese Art könnte Europa wieder Einfluss auf Ankara gewinnen. Wenn die EU sich aber mit ein paar symbolischen Gesten der Türkei abspeisen lässt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die nächste Krise ausbricht – und Europa ohne Einflussmöglichkeiten dasteht. Die Türkei braucht die Europäische Union, ihren größten Handelspartner, mehr denn je.
●»