Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Interview
RAVENSBURG - Ein Polizeihubschrauber kreist über der Gemeinde Berg (Landkreis Ravensburg), am Boden durchkämmen Einheiten die Wohngebiete, sie suchen den mutmaßlichen Täter nach einem Tankstellenüberfall. Den sie schließlich auch fassen. Sein Alter: 14 Jahre. Nur wenige Kilometer entfernt in Weingarten ist die Kripo in diesen Tagen mit einem anderen Fall beschäftigt: Ein 37-jähriger Mann wird in einem Studentenwohnheim durch mehrere Messerstiche getötet, bei der Auseinandersetzung soll es um Drogen gegangen sein. Unter Tatverdacht: ein 17-jähriger Jugendlicher. Und vergangene Woche wird eine 62-jährige Frau tot am Ravensburger Bahnhof aufgefunden, ebenfalls durch Messerstiche gestorben. Die Polizei nimmt eine Tatverdächtige fest, die es offenbar auf die Handtasche der Frau abgesehen hatte. Ihr Alter: 15 Jahre, sie war schon vorher mehrfach polizeiauffällig. Darüber hinaus zeugen andere Polizeimeldungen von Scharmützeln, Schlägereien und aggressivem Auftreten Jugendlicher. In München etwa verletzt ein 16-Jähriger vier Polizisten so schwer, dass sie in einem Krankenhaus behandelt werden müssen.
Auch Professor Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, beobachtet sowohl in der Schweiz wie in Deutschland eine Häufung von Gewalttaten durch Jugendliche. Dirk Grupe sprach mit dem renommierten Fachmann darüber, welche Rolle bei dieser Entwicklung die Pandemie spielt, mit welchen langfristigen Folgen die Gesellschaft rechnen muss und ob bei Jugendgewalt verstärkt ein Migrationshintergrund zum Vorschein kommt.
Herr Baier, Gewalttaten durch Jugendliche häufen sich in jüngster Zeit. Zufall oder eine Folge der Pandemie?
Bei diesem Gewaltphänomen – auch bei Ihnen vor Ort – fällt schon auf, dass die Täter eher Menschen sind, die nicht viel haben, die ein Stück weit auf eine Verliererstraße geraten sind. Durch Corona sind solche Leute noch hoffnungsloser geworden, weil es mit der Ausbildung nicht klappt oder der Übergang ins Berufsleben nicht gelingt. Die sind draußen unterwegs, es werden Alkohol und andere Drogen konsumiert, dann kommt es relativ schnell zur Eskalation.
Insofern erhöht die Pandemie den Druck auf diese Klientel?
Genau. Die haben sowieso viel Druck, konnten aber in den vergangenen Jahren durch eine relativ gute Wirtschaftslage eine gewisse Perspektive entwickeln, die sie jetzt nicht mehr haben. Wirtschaftsbereiche, etwa in der Hotellerie oder im Gaststättenbereich, die offen sind auch für nicht so gute Schüler, fallen jetzt weg. Das erzeugt Druck.
Jugendliche leiden ohnehin sehr stark unter der Pandemie ...
... richtig, Corona ist insbesondere ein kritisches Ereignis für junge Menschen. Jugendliche sind auch eine Art Fieberthermometer der Gesellschaft. Die kriegen Dinge zuerst mit, reagieren schnell und unverblümt darauf, auch weil es an Selbstkontrolle mangelt. Wenn etwas in der Gesellschaft nicht stimmt, merkt man das bei Jugendlichen als Erstes. Das ist jetzt der Fall.
Corona ist irgendwann vorbei, zieht aber womöglich eine Wirtschaftskrise nach sich. Könnte dadurch der Druck, von dem Sie sprechen, anhaltend sein?
Da bin ich leider gar nicht optimistisch. Man merkt ja jetzt schon, dass wir in diese Wirtschaftskrise kommen. Ich bin der Meinung: Wenn Corona vorbei ist und die Auswirkungen sichtbar werden, wird die Jugendkriminalität zunehmen. Für die nächsten drei Jahre mache ich mir da Sorgen. Es ist jetzt schon feststellbar, dass die Jugend immer unruhiger wird. Sie bleibt nicht zu Hause, schon gar nicht die, die nicht viel zu Hause hat. Wo es im Elternhaus vielleicht nicht stimmt, wo die Räumlichkeiten nicht passen, die werden nach draußen geworfen. Dann entstehen diese Phänomene, die wir jetzt haben. Und das wird noch weiter zunehmen.
Ist es richtig, dass Jugendgewalt ohnehin bereits steigt?
Ja, es gärt sowieso in der Jugend. Das gilt für die Schweiz genauso wie für Deutschland, wo die Jugendgewalt in den vergangenen fünf Jahren um ein Viertel zugenommen hat.
Gibt es dafür eine Erklärung?
Die Jugend lässt sich von gesellschaftlichen und auch politischen Veränderungen beeinflussen. Donald Trump ist da ein gutes Beispiel, mit seinem aggressiven Männlichkeitsgehabe beeinflusst er auch junge Männer in der Schweiz und in Deutschland. Mit seiner Rhetorik ist er für den einfachen Mann eine Identifikationsfigur, an die sie sich festkrallen und die sie nachahmen. Die sie ein Stück weit ermächtigt, aggressiv aufzutreten und den Macho raushängen zu lassen. Mit Corona kommt nun eine Art Beschleuniger dazu. Besonders für die Gruppen, die sowieso gefährdet sind.
Werden Jugendlichen zu selten diese Grenzen aufgezeigt?
In den Familien passiert das teilweise zu wenig. Da sind dann andere Akteure gefordert, die Schulen, Trainer im Verein oder die Polizei. Das sollte schon bei verbalen Entgleisungen anfangen, dass man interveniert, bei Herabsetzungen, bei Homophobie oder Fremdenfeindlichkeit. Wenn Jugendliche einen klaren Rahmen kennen, wird es unwahrscheinlicher, dass sie über die Stränge schlagen.
Sie haben den Strafvollzug erwähnt. Ist das nicht eine Sanktion, die die Betroffenen stigmatisiert und ihren weiteren Lebensweg erschwert?
Strafvollzug ist die allerletzte Maßnahme für Jugendliche. Nimmt man die 14- bis 17-Jährigen, sitzen in Deutschland gerade 500 im Strafvollzug. Wer dahin kommt, hat bereits eine kriminelle Karriere hinter sich oder eine sehr schwere Tat begangen. Dass Menschen