Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Weltweit gefeiert, daheim verachtet
Am Dienstag wird Michail Gorbatschow 90 Jahre alt – Der letzte Staatschef der UdSSR ebnete den Weg zur deutschen Einheit
MOSKAU - Er ist ein politischer Weltstar, der in seiner Heimat als Versager, wenn nicht gar als Verräter gilt. Am Dienstag wird Michail Gorbatschow 90 Jahre alt.
Seine Wangen wirken schwammig, er müht sich mit einer Gehhilfe vom Fleck, die Leibwächter müssen ihm oft unter die Arme greifen. Mehrere Tage in der Woche verbringt Gorbatschow an Klinikapparaten, er ist krank, er ist alt. Aber er ist unbesiegt. „Zwischen den medizinischen Prozeduren arbeitet er weiter“, erzählt Dmitri Muratow, Chefredakteur der Oppositionszeitung „Nowaja Gaseta“und ein enger Freund Gorbatschows. Bald werde dessen nächstes Buch erscheinen, Gorbatschow veröffentliche jedes Jahr eines.
„Er hat die reckenhafte Gesundheit seiner bäuerlichen Eltern geerbt“, erklärt Muratow. „Außerdem besitzt er enorme Selbstironie und Humor, schwarzen Humor.“Einmal, bei einer Andacht für seine verstorbene Frau Raissa, habe ein Erzbischof Gorbatschow gewünscht, er möge noch zwanzig, dreißig Jahre leben. Der antwortete: „Eure Heiligkeit, wir sollten besser im Rahmen von Fünfjahresplänen denken.“Eine Anspielung auch auf jene sowjetische Planwirtschaft, die Gorbatschow einst umbauen wollte.
Michail Sergejewitsch Gorbatschow, der letzte Generalsekretär der sowjetischen KPdSU, wird heute 90 Jahre alt. Im Westen gilt er als der Mann, der den Kalten Krieg beendet hat, in Deutschland wird er als Vater der Wiedervereinigung gefeiert. In Russland dagegen ist er seit Jahrzehnten politischer Außenseiter. Der Moskauer Mainstream will ihm nicht verzeihen, dass sein Versuch, die Sowjetunion zu reformieren, mit deren Kollaps endete. Aber der Historiker Andrei Subow urteilt: „Gorbatschow war eine der positivsten Figuren in der Geschichte Russlands. Wie vielen Völkern hat er die Freiheit gegeben!“
Gorbatschow wurde im Vorratsraum eines Bauernhäuschens im Stawropoler Gebiet am Fuß des Kaukasus geboren. Man habe Stroh auf den Lehmboden gelegt und seine Mutter darauf gebettet, schreibt er in seiner Autobiografie. Später fragte ihn seine Tochter Irina: „Papa, hör mal, bist du geboren wie Jesus Christus?“Er antwortete lächelnd: „Ja! Schreib es dir hinter die Ohren, aber sag es nicht weiter!“
Michail Gorbatschow ist nicht Jesus Christus. Aber als Politiker, erst recht als Sowjetfunktionär, war er eine Ausnahmefigur. „Er war nie ein Zyniker“, sagt Subow. Ein Kriegskind, das die deutsche Besatzung, Hunger und verwesende Leichen toter Rotarmisten erlebte. Ein Musterschüler, auch ein vorbildhafter Mähdrescherfahrer, mit 17 bekam er dafür einen Rotbannerorden. Er durfte in Moskau Jura studieren – noch so eine Auszeichnung. Dort verliebte er sich in eine Kommilitonin aus dem Ostural, Raissa, die einzige Frau in seinem Leben. Erst Komsomol-, dann Parteifunktionär, 1962 erster Sekretär des Stawropoler Gebietsparteikomitees. Ein musterhafter Karrierist, fleißig, tüchtig und enorm zielstrebig.
Mit 49 war er Politbüromitglied, mit 54 Generalsekretär der KPdSU und damit praktisch Staatschef. Chef eines Imperiums in der Sackgasse, seine drei Vorgänger Breschnew, Andropow und Tschernenko waren binnen vier Jahren an Altersschwäche gestorben, ihr junger Thronfolger wollte das verknöcherte System keineswegs zerstören, sondern reformieren. Das war 1985.
Perestroika (Umbau) nannte er sein Projekt, predigte dem verdutzten Sowjetvolk Glasnost (Transparenz) und Demokratie. „Solche Reformen konnten nur freie Menschen verwirklichen“, erklärte Gorbatschow 2019. „Darum sahen wir es als Schlüsselaufgabe, unseren Bürgern maximale Freiheit zu geben. Konnten wir dieselben Freiheiten den Bürgern unserer sozialistischen Bündnisstaaten verweigern?“
Dieses „Neue Denken“, wie Gorbatschow es nannte, veränderte die Weltordnung. In Osteuropa, vor allem in der DDR, gingen die Bürger gegen die sozialistischen Diktaturen auf die Straße, die versuchten, sich gegen die Perestroika des Russen ideologisch abzuschotten. Und im Gegensatz zu früheren Aufständen in Berlin 1953, Budapest 1956 oder Prag 1968 schickte Moskau diesmal keine Panzer.
Es folgten der Berliner Mauerfall 1989 und der reihenweise Kollaps der kommunistischen Satellitenstaaten.
Der Generalsekretär handelte mit den US-Präsidenten Ronald Reagan und George Bush Verträge aus, die den atomaren und chemischen Rüstungswettlauf beendeten. Gorbatschow wurde zum Weltstar, „Gorbi“nannten ihn die Deutschen liebevoll, 1990 erhielt er den Friedensnobelpreis.
In der Heimat aber boykottierte der Apparat seine Reformen, Versorgungsengpässe häuften sich. Gorbatschows Popularität sank, in den baltischen und kaukasischen Sowjetrepubliken wurden Unabhängigkeitsbewegungen laut, in Tiflis und Vilnius starben Demonstranten unter den Spaten und Panzerketten der Sowjetarmee, in Aserbaidschan kam es zu blutigen ethnischen Pogromen. Einerseits machten kommunistische Konservative gegen Gorbatschow Front, andererseits Separatisten und marktwirtschaftlich gesonnene Demokraten. Im August 1991 putschten mehrere hohe Apparatschiki in Moskau gegen den auf der Krim urlaubenden Gorbatschow, scheiterten aber am Widerstand der Hauptstadtbevölkerung.
Deren Anführer war Boris Jelzin, der Präsident der Russischen Föderativen Sowjetrepublik. Im Dezember erklärte der Populist Jelzin gemeinsam mit seinen Amtskollegen aus Belarus und der Ukraine die Auflösung der Sowjetunion, entmachtete damit auch Gorbatschow. Der versuchte diesmal erst gar nicht, Sicherheitskräfte zu mobilisieren, um sich zu wehren. „Mein Sieg ist“, schrieb er später, „dass ich die Macht abgegeben habe.“
In Putins Russland, das sich die Wiederherstellung des Sowjetimperiums auf die Fahnen geschrieben hat, gilt Gorbatschow bis heute als Versager, wenn nicht als Verräter. In einem Moskauer Theater läuft das Kammerspiel „Gorbatschow“. Darin beschwert sich die spät-sowjetische Raissa bei ihrem Michail bitter über einen neuen Gorbatschow-Witz: „Sie kocht zu Hause die Bandnudeln, die er dann den Leuten an die Ohren hängt.“Das Publikum lacht: Bandnudeln an die Ohren hängen, das heißt auf Russisch, jemanden für dumm zu verkaufen.
Raissa, die Gorbatschow freimütig als seine große Liebe bezeichnet, ist 1999 gestorben, Tochter und Enkelkinder wohnen in Deutschland. Gorbatschow lebt allein mit ein paar Bediensteten in einem Haus westlich von Moskau, er arbeitet unverdrossen weiter, sein neues Buch schreibt er auf der Grundlage von Briefen, die er aus dem Volk bekam. In manchen dieser Zuschriften werde er gefragt, warum er sich noch nicht umgebracht habe, erzählte er jüngst in einem Interview mit dem Internetportal „meduza.io“.
Gorbatschow scheint die Häme gelassen zu nehmen, erlaubt sich selbst boshafte Scherze. „Er trinkt, tanzt, fliegt und schwimmt, macht zum Teufel alles was man machen kann“, lästerte Gorbatschow gegenüber „meduza.io“über Putin. „Nur ins Weltall traut er sich nicht. Dann werden nämlich alle schreiben: ,Wladimir Wladimirowitsch, bleiben Sie dort, tun Sie dem Volk den Gefallen.’“Tatsächlich kursieren in Russland inzwischen mehr Putin- als Gorbatschow-Witze.