Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
„Die größte Hungerkrise seit Beginn des Kriegs“
Konstantin Witschel, Syrien-Koordinator der Welthungerhilfe, über den zehn Jahre währenden Konflikt
RAVENSBURG - Nach zehn Jahren Bürgerkrieg wird in Syrien inzwischen weniger gekämpft, aber mehr gehungert. Die Zahl der Menschen, die auf Hilfspakete angewiesen sind, hat sich im vergangenen Jahr verdoppelt. Auf einer Online-Geberkonferenz vor Ostern hat die internationale Gemeinschaft mehr als fünf Milliarden Euro an Hilfe in Aussicht gestellt. Wofür das Geld benötigt wird, und wie man verhindert, dass die falschen Menschen davon profitieren, erläutert Konstantin Witschel von der Welthungerhilfe im Gespräch mit Ulrich Mendelin.
Wie sind die Lebensumstände der Menschen in Syrien nach zehn Jahren Krieg?
Es herrscht die größte Hungerkrise seit Beginn des Konflikts. Mehr als zwölf Millionen Syrer haben nicht genug zu essen. Diese Menschen leben von einem Nahrungsmittelpaket zum nächsten. Dazu kommt, dass sich die allgemeine humanitäre Lage im vergangenen Jahr stark verschlechtert hat.
Die Gewalt in Syrien ist zuletzt eher zurückgegangen. Warum gerade jetzt diese humanitäre Krise?
Erstens gab es Anfang vergangenen Jahres eine große Offensive des syrischen Regimes, rund eine Million Menschen wurden intern vertrieben. Die meisten sind in die Nähe der türkischen Grenze geflohen, in die ohnehin schon überfüllten Camps für intern Vertriebene. In diesen leben mittlerweile 1,6 Millionen Menschen, die zu 95 Prozent auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Zweitens wirkt sich die Corona-Pandemie aus, vor allem wirtschaftlich. Viele haben den letzten kleinen Job verloren, der ihnen wenigstens noch ein bisschen Geld eingebracht hatte. Und drittens gab es im vergangenen Jahr und Anfang diesen Jahres massive Währungsschwankungen. Die Preise für Nahrungsmittel haben sich teilweise verdreifacht.
Woran fehlt es abgesehen von Lebensmitteln am meisten in der Nothilfe?
Grundsätzlich an allem. Wir stellen in den Camps Latrinen auf, wir verteilen Trinkwasser, Gutscheine für Kleidung, für Heizmaterial, für Hygieneartikel. Masken und Desinfektionsmittel sind so gut wie nicht vorhanden, und wenn doch, dann können sich die Menschen diese nicht leisten. Als Welthungerhilfe arbeiten wir inzwischen in fast jedem Bereich, den man sich vorstellen kann. Wir haben jetzt zum Beispiel in einem Camp sämtliche alten, kaputten Zelte durch etwas stabilere Wohncontainer ersetzt, um den Menschen ein bisschen Schutz vor der Witterung und auch einen Rückzugsraum zu geben.
Sie arbeiten in der grenznahen türkischen Stadt Gaziantep. Kommen immer noch Menschen aus Syrien in der Türkei an?
Die türkischen Sicherheitskräfte halten die Grenze dicht, da kommt keiner mehr durch. Außer vielleicht, wenn man mehrere Tausend USDollar für einen Schleuser zur Verfügung hat, aber die hat niemand mehr. Das gleiche gilt für Syriens Grenzen zum Libanon, zu Jordanien, zum Irak. Das Land ist hermetisch abgeriegelt.
Bei einer Geberkonferenz für Syrien wurden jetzt 5,3 Milliarden Euro zugesagt. Reicht das Geld für die Hilfe?
Von dem versprochenen Geld wurde ein Teil erst für die nächsten Jahre zugesagt, nur 3,6 Milliarden Euro schon für 2021. Das entspricht nur rund 40 Prozent von dem, was für das laufende Jahr dringend nötig wäre. Der einzige Lichtblick war die erfreulich hohe Zusage, die die Bundesregierung gemacht hat (1,7 Milliarden
Euro – Red.). Ansonsten sind viele internationale Geber stark hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Wir hoffen, dass sie ihre Mittel noch aufstocken. Sonst wird es ein sehr, sehr schweres Jahr.
Das Geld soll über Hilfsorganisationen wie die Welthungerhilfe nach Syrien fließen. Inwieweit stellt dies auch immer eine Unterstützung für die Regierung von Baschar al-Assad dar?
In den Gebieten unter seiner Kontrolle manipuliert das Regime massiv die humanitäre Hilfe. Es verweigert Zugang zu bestimmten Gruppen und in bestimmte Regionen. Und es manipuliert Wechselkurse. Eine Nichtregierungsorganisation, die im Gebiet des Regimes arbeitet, muss ihre US-Dollar zu einem Fantasiepreis in syrische Pfund umtauschen. Darüber bekommt das Regime DeviWenn sen. Als Welthungerhilfe haben wir aber keine Berührungspunkte, denn wir und auch unsere syrischen Partnerorganisationen arbeiten ausschließlich in Nordwestsyrien ...
… also in dem von Rebellen beherrschten Gebiet des Landes ...
… dort versorgen wir jährlich rund 700 000 Menschen. Dennoch wollten wir uns auch für die Arbeit in dem vom Regime beherrschten Gebiet registrieren lassen. Das wäre uns aber nur gestattet worden, wenn wir unsere Arbeit in Nordwestsyrien komplett eingestellt hätten. Das stand für uns nicht zur Debatte.
Die Bundesregierung will in Syrien keine Aufbauhilfe leisten, etwa bei der Infrastruktur, solange es keinen Friedensprozess gibt. Lässt man damit die Menschen ein Stück weit im Stich?
der Wiederaufbau nicht in einen politischen Friedensprozess eingebettet ist, dann zementiert er die bestehenden, zutiefst ungerechten Verhältnisse. Nehmen wir den Bereich der Land- und Eigentumsrechte. Das syrische Regime enteignet gezielt Menschen, die intern vertrieben wurden und Menschen, die ins Ausland flüchten mussten. Auf deren Grund und Boden werden dann neue Häuser gebaut. Unter solchen Bedingungen ist ein friedensfördernder Wiederaufbau einfach nicht vorstellbar. Die Einzigen, die profitieren würden, wären Assad selbst und eine hoch korrupte Elite.
Was müsste geschehen, damit die Menschen im Land wieder auf die Beine kommen?
Einer der wichtigsten Punkte ist, den Familien ein eigenes Einkommen zu ermöglichen. Die Menschen in den Camps hatten früher alle ein ganz normales Leben, einen Job, eine Familie, die Kinder gingen zur Schule. Und jetzt sind sie zum Nichtstun verdammt. Darum pachten wir beispielsweise Land und stellen es den Menschen zur Verfügung, sodass sie dort die Felder bewirtschaften können und durch die Ernte ein kleines Einkommen haben. Dies hilft den Familien in Not direkt – ohne das Regime oder auch bewaffnete Gruppen zu stützen.