Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Die leidige Kurvendiskussion
Ach, wie uns diese Zeit der Tabellen und Grafiken doch zurückversetzt in die sorglosen Tage der Jugend. Als Kurven – mathematische wie nicht mathematische – unschuldig ihr rundliches Auf und Ab zeichneten. Als Kurvendiskussionen noch bedeuteten, mit dem Lehrkörper darüber zu streiten, ob es sich beim Gekrakel an der Tafel um einen Hoch-, Tief-, Wende-, Satteloder Flachpunkt handelte. Als wir um Asymptoten stritten, aber nie um Symptome debattierten. Um mathematische Fragen der Unendlichkeit. In der eine Endlichkeit, wie die Seuche
sie uns gegenwärtig unschön vor Augen führt, überhaupt nicht zu existieren schien. Ach, Seufz!
Heute sind uns die Kurven entrissen. Frei jeder Romantik zeigen sie uns garstige Verläufe. Schrecken uns mit zweifelhaften Hochpunkten der horriblen Art. Nicht mehr Gegenstand von Algebra und Analysis, sondern von Virologie und Infektiologie. Kein Archimedes mehr, kein Keppler oder Gauß. Nur noch Lauterbachs, Streecks oder Drostens. Ach, Doppel-Seufz!
Im Gegensatz zu virologischen Sachverhalten gibt es in der Mathematik
zum Glück meistens sehr eindeutig ein Richtig oder Falsch. Etwas, worauf Verlass ist. Etwas, worauf man bauen kann. 1 + 1 = 2. 3 x 3 = 9. Daran wird sich nichts ändern. Ein Umstand, der uns etwas zu beruhigen vermag. Eine Botschaft, die uns ein wenig Hoffnung verheißt, haben die aktuellen Grafiken und Kurven aber dann also doch: So hässlich es gerade ist und noch werden mag – was raufgeht, kommt irgendwann auch wieder runter. Möglichst ohne harten Aufprall. (nyf )