Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Erzbergers Einsatz für soziale Gerechtigkeit
Neue Biografie über den Zentrumspolitiker, dessen Ermordung sich zum 100. Mal jährt
BIBERACH/MÜNSINGEN - Vor 100 Jahren, am 26. August 1921, fiel der württembergische Zentrumspolitiker Matthias Erzberger einem Attentat durch rechte Nationalisten zum Opfer. Zehntausende Bürger geleiteten ihn wenige Tage später in Biberach zu seiner letzten Ruhestätte auf dem Alten katholischen Friedhof. Benjamin Dürr (32), Politikwissenschaftler und Völkerrechtler aus Den Haag, hat zum Jahrestag eine neue Biografie über Erzberger geschrieben. Im Interview spricht er darüber, was er dabei Neues über Erzberger herausgefunden hat und welche Bedeutung er für uns heute noch hat.
Herr Dürr, was war Ihre Motivation, eine Biografie über Matthias Erzberger zu schreiben?
Ich bin auf der Schwäbischen Alb in Kohlstetten aufgewachsen. Das ist etwa zehn Kilometer von Erzbergers Geburtsort Buttenhausen entfernt. Ich kannte natürlich seinen Namen und wusste, dass er 1918 den Waffenstillstand unterzeichnet hatte, kannte aber seine Biografie nicht genauer. Weil ich mich selbst viel mit Völkerrecht beschäftige, hatte ich das Interesse, mehr über ihn zu erfahren. Mein Buch sollte sich eigentlich hauptsächlich um den Waffenstillstand drehen, in Gesprächen mit dem Verlag sind wir aber zu dem Schluss gekommen, dass Erzberger eine vollständige Biografie verdient – auch aus Anlass des 100. Todestages.
Wie sind Sie bei Ihrer Recherche vorgegangen?
Ich habe anfangs viel gelesen. Es gibt so eine Standard-Erzberger-Biografie aus den 1950er-Jahren, das war der Ausgangspunkt. Dann habe ich mich immer weiter in sein Umfeld und in die damalige Zeit eingelesen, vom Kaiserreich bis in die Weimarer Republik. Archivrecherchen waren durch die Corona-Pandemie zum Teil etwas schwierig, deshalb habe ich sehr viel auch digital recherchiert und mir eingescannte Dokumente schicken lassen. Auch Zeitungen waren eine sehr wichtige Quelle. Darüber hinaus habe ich mit verschiedenen Experten Gespräch geführt.
Nun kann man über so ein Thema sehr umfassend und trocken schreiben. Sie hingegen haben es geschafft, Erzbergers Leben auf 240 Seiten (ohne Anhang) in einer auch für den Laien verständlichen Art und Weise zu erzählen. Wie schwierig war das?
Das war schon eine Herausforderung, ein Balanceakt: Wie weit geht man zurück? Wie weit geht man ins Umfeld? Mir war wichtig, die großen Linien von Erzbergers Leben zu zeigen und mich nicht in Details zu verlieren. Bestimmte Aspekte konnten dadurch nicht aufgenommen werden. Erzberger hat sich während des Ersten Weltkriegs zum Beispiel gegen Zwangsarbeit in den besetzten Gebieten eingesetzt. Dieser Aspekt taucht im Buch kaum auf, weil er nicht der Einzige war, der diese Haltung hatte.
Was sind denn aus Ihrer Sicht die großen Linien in Erzbergers Leben?
Es gibt da mehrere Brüche und Kehrtwenden. Eine große Linie ist sein Einsatz für soziale Gerechtigkeit. An dieser Vertretung der Interessen der einfachen Bevölkerungsschichten hat er bis zum Ende seines Lebens festgehalten. Eine zweite Linie ist der konservative Nationalpolitiker, der Erzberger vor allem in seinen ersten Jahren war, der sich aber nach dem Weltkrieg doch sehr weltoffen gezeigt hat.
Sind Sie auch auf Dinge gestoßen, die Ihnen neu waren?
Was in der Biografie im Vergleich zu anderen neu ist, ist sein persönliches Umfeld, sein Privatleben. Das kommt in anderen Büchern gar nicht vor. Da habe ich auch persönlich neue Dinge über ihn gelernt, zum Beispiel wie er als Familienvater war und wie er mit den Drohungen gegen seine Person umgegangen ist. Aus historischer Sicht fand ich interessant, wie es eigentlich dazu gekommen ist, dass jemand von der Schwäbischen Alb den Waffenstillstand unterzeichnete.
Sie haben gerade den privaten Erzberger angesprochen. Was war er aus Ihrer Sicht für ein Mensch?
Als Politiker war er sehr umstritten und vermutlich auch keine einfache Persönlichkeit, im Privaten war er ein sehr fürsorglicher Vater. Als er nach Berlin kam, hat er zwar 14 bis 16 Stunden gearbeitet, aber sich trotzdem die Zeit genommen, mit seiner kleinen Tochter Spaziergänge durch Berlin zu machen. Das war die einzige Freizeitbeschäftigung, die er sich erlaubte. Er war ein sehr sozialer Mensch, der sehr gerne in Gesellschaft war und für den die Familie ein sehr wichtiger Teil war, obwohl er kaum Zeit hatte und nur selten zu Hause war. Es gibt einige Familienfotos, auf denen immer nur seine Frau und die Kinder zu sehen sind, was schon darauf hindeutet, dass er in erster Linie Politiker war.
100 Jahre sind eine lange Zeit und mancher wird sich fragen: Was hat mir dieser Erzberger heute noch zu sagen? Warum lohnt es sich, sich mit seiner Person zu beschäftigen?
Ich glaube, es lohnt sich auf zwei Ebenen. Die eine sind seine Verdienste, die er erreicht hat: der Versailler Vertrag und die Steuerreform. Der Versailler Vertrag hat dafür gesorgt, dass das Deutsche Reich nicht auseinandergebrochen ist. Sonst würde Deutschland heute in seinen Grenzen und seiner politischen Verfassung wahrscheinlich anders aussehen. Die Steuerreform, die er entwickelt hat, gilt in Teilen heute auch noch. Auf einer zweiten Ebene hat sein Leben Relevanz, weil es bestimmte Entwicklungen aufzeigt, die heute leider wieder relevant sind. Ich denke da vor allem an den zunehmenden Hass auf den Staat, Eliten und auch einzelne Politiker. Dieser Hass beginnt mit Worten, kann aber schnell in Taten und physische Gewalt umschlagen und zu politischen Morden führen. Das haben die Fälle des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Eine weitere Relevanz ist Erzbergers Mut, große Probleme zu lösen. Wir stehen heute, ähnlich wie damals, vor großen Herausforderungen, beispielsweise dem Klimawandel oder vor dem sozialen Auseinanderdriften der Gesellschaft. Erzberger setzte sich damals für unbequeme, aber notwendige Veränderungen ein.
Nun endete Erzbergers Leben im August 1921 im Alter von nur 45 Jahren. Was hätte Ihrer Meinung nach aus ihm noch werden können?
Zum Zeitpunkt, als er ermordet wurde, war er politisch im Abseits. Was man aber weiß, ist, dass er wenige Monate nach dem Mord auf die politische Bühne hätte zurückkommen wollen. Es gab zu seinen Lebzeiten immer wieder Gerüchte, ob er nicht Reichspräsident oder Reichskanzler werden könnte. Ich persönlich glaube nicht, dass er das noch geworden wäre. Dafür war er durch den Versailler Vertrag, den Waffenstillstand und die Steuerreform einfach zu unbeliebt bei zu großen Teilen der Bevölkerung, als dass er so ein großes Amt hätte ausüben können. Er war mehrmals in seiner Karriere im Abseits und kam jedes Mal noch größer zurück in einer noch wichtigeren Rolle. Ich glaube, dass ihm das 1921 nicht mehr gelungen wäre. Das ist aber meine persönliche Spekulation.
Benjamin Dürr: Erzberger – der gehasste Versöhner; Biografie eines Weimarer Politikers. Ch. Links Verlag; 300 Seiten; ISBN: 978-3-96289-116-9; 25 Euro.