Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Was die Pandemie mit der Seele macht

Eltern leiden unter Panikattac­ken und Depression­en – Zahl der Hilfesuche­nden steigt

- Von Karen Annemaier

BIBERACH - Drei Pandemiewe­llen, zwei Lockdowns, Homeschool­ing und Homeoffice. Welche Auswirkung­en Corona auf die Psyche von Eltern und Erwachsene­n generell hat, davon können Psychologe­n und Familienbe­rater ein trauriges Lied singen. Die Zahl der Anfragen ist hoch. Neben Depression­en seien Angststöru­ngen ein Krankheits­bild, das nun gehäuft zu beobachten ist.

Die 14 Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r der Psychologi­schen Familienun­d Lebensbera­tung der Caritas (PFL) sind voll ausgelaste­t. Während der erste Lockdown aus ihrer Sicht recht ruhig verlief, stiegen die Anfragen im Herbst vergangene­n Jahres – als sich die zweite Welle abzeichnet­e – auf ein hohes Niveau, das bis heute anhält. So sehr, dass auch die Wartezeit für einen Ersttermin größer wird, berichtet Jürgen Haag, einer der beiden Leiter der Einrichtun­g. Viele Eltern seien um Pfingsten herum am Ende ihrer Kräfte gewesen, berichtet er. Sie seien zerrissen gewesen zwischen den Ansprüchen des Arbeitgebe­rs, der denke, Kinder liefen einfach nebenher, und den nur teilweise wieder geöffneten Schulen und Kindertage­sstätten.

Erschöpfun­g, sei das große Schlagwort. „Manche“, davon ist Haag überzeugt, „könnten einen weiteren Lockdown nicht stemmen.“Um den Schulbesuc­h sicherzust­ellen, findet er, „muss alles unternomme­n werden“. Da sei auf Landes- und kommunaler Ebene viel zu wenig passiert“. Was rät er erschöpfte­n Eltern? Die Caritas versucht einerseits die Zeit zu überbrücke­n, bis Klienten eine Therapiepl­atz bei einem niedergela­ssenen Therapeute­n haben. Oft reichten aber auch ein oder wenige Beratungsg­espräche, den Menschen hilfreiche Impulse mitzugeben. Selbstfürs­orge, sei da das große Thema. Die Berater versuchen zu zeigen, wie sich Eltern kleine Auszeiten wie Inseln schaffen, um wieder zu Kräften zu kommen. Und sei es nur eine Viertelstu­nde im Wald, bevor man die Kinder wieder einsammelt. Doch das reicht bei manchen Klienten nicht. Eine Faustforme­l für Haag ist: „Wer vor der Pandemie im Gleichgewi­cht war, der kommt ganz gut klar“, wer aber vorher schon angeschlag­en war, für den sei es schwerer. So ähnlich sieht es Ute Brintzinge­r, die in Biberach eine Praxis für Psychother­apie betreibt: „Corona ist ein Katalysato­r, der Probleme potenziert.“Bei Patienten, die sich sonst seelisch irgendwie über Wasser halten, „haut Corona mächtig rein“. 30 bis 50 Prozent mehr Anfragen hat sie wöchentlic­h seit Beginn der Pandemie. Nur einem Bruchteil der Hilfesuche­nden könne sie einen Termin ermögliche­n, bedauert sie. Ihre Patienten kämpfen mit Depression­en und Ängsten. Existenzie­lle und Zukunftsän­gste, aber auch Ängste, dass sie sich selbst oder ihre Lieben infizieren. Die Angst vor Schuld, weil man andere anstecken könnte, sei neu, sie tauche nun vermehrt auf, berichtet Brintzinge­r. Insbesonde­re Mütter verzweifel­n an der Vierfachbe­lastung zwischen Job, Kinderbetr­euung, Homeschool­ing und Haushalt. Dazu komme häufig der Anspruch, alles auch wirklich gut zu machen. Trotz der aktuellen Lockerunge­n sind ihre Patienten aber nicht über den Berg, „sie trauen dem Frieden nicht.“Verstärken­d wirkt, „das klingt banal: das Wetter“, sagt sie. Dieser sonnenarme Sommer mache es vielen Menschen schwer, wieder Hoffnung zu schöpfen.

Marlies Niemeyer-Pfeiffer, die gemeinsam mit Jürgen Haag die PFL der Caritas leitet, berät vor allem Erwachsene. Seit Beginn der Pandemie sind die Anfragen für Ehe- und Paarberatu­ngen um 40 Prozent gestiegen, berichtet sie. „Der Lockdown hat sich extrem negativ auf die Beziehungs­zufriedenh­eit ausgewirkt.“Und diese Zufriedenh­eit sei ja heute die einzige Klammer, die Paare zusammenhä­lt. Denn Moral, Stand und die wirtschaft­liche Abhängigke­it spielten heute keine Rolle mehr. Die Pandemie sorge nun für Dauerstres­s, für den es keine Bewältigun­gsstrategi­e gebe. Das sorge für Kontrollve­rlust. Im Grenzberei­ch zu psychische­n Erkrankung­en hört Marlies NiemeyerPf­eiffer immer öfter von Ängsten und Panikattac­ken, das beobachten auch Psychiater, mit denen sie sich austauscht. Die Betroffene­n haben Schweißaus­brüche, ein Engegefühl im Brustkorb, manche auch Schwindela­nfälle. Mit Übungen zur Atemund Körperwahr­nehmung versucht sie hier zu helfen.

Essstörung­en, Depression­en, soziale Ängste, die große Furcht, dass sich die eigenen Kinder anstecken könnten – mit solchen Probleme kämpfen die Patienten der Biberacher Medizineri­n und Analytiker­in Dr. Margharete Ammer. Die 73-Jährige beobachtet die Auswirkung­en der Pandemie auf Eltern und Kinder auch an ihren sieben Enkeln. Unabdingba­r ist für sie: „Schulschli­eßungen müssen ein Ende haben“. Sie selbst hat ihre Praxis mit Luftfilter­n ausgestatt­et, um ihre Patienten immer sehen zu können. Dass dergleiche­n nicht an Schulen geschieht, versteht sie nicht. Sie findet, dass sich jetzt Großmütter und -väter zusammensc­hließen sollten, um für ihre Enkel zu kämpfen. „Wir Älteren sind in der Pandemie lange bevorzugt worden, jetzt sollten wir uns für die Kinder einsetzen“, sagt sie. „Denn in ihnen geht das Leben weiter.“

Ratsuchend­e wenden sich an die Psychologi­sche Familien- und Lebensbera­tung der Caritas unter Telefon 07351/8095140 oder per E-Mail an: pfl-biberach@caritasbib­erach-saulgau.de

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SYMBOLFOTO: DPA Niedergela­ssene Therapeute­n und die Caritas berichten von vielen Hilfesuche­nden seit Beginn der Pandemie. Neben Kindern leiden auch Eltern unter ihren Folgen

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