Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Macron macht Marseille zur Chefsache
Frankreichs Präsident wird vor allem am Kampf gegen die Drogengangs gemessen
MARSEILLE - Es war ein lauer Sommerabend Ende August, als sich der 14-jährige Rayanne zusammen mit einem Freund aufmachte, um ein Sandwich essen zu gehen. Die beiden Jungen waren im Problemviertel Les Marronniers im Norden von Marseille unterwegs, als ein Motorroller angefahren kam und der Beifahrer auf sie schoss. Rayanne wurde tödlich getroffen, sein gleichaltriger Freund verletzt. Auch ein achtjähriges Kind, das in einem vorbeifahrenden Auto saß, erlitt Verletzungen durch Metallsplitter.
„Rayanne war kein Verbrecher. Er war nur ein Kind“, verteidigt seine Tante im Fernsehsender BFM ihren Neffen. „Er war im falschen Moment am falschen Ort.“Auch wenn die Polizei davon ausgeht, dass die beiden Jungen für Drogenhändler Wache schoben, so bleibt Rayanne doch eines der jüngsten Todesopfer des Bandenkriegs, der Marseille seit Jahren heimsucht.
Bassens, eine andere Banlieue von Marseille, ist nur ein paar Minuten mit dem Auto von Les Marronniers entfernt. Präsident Emmanuel Macron kam diese Woche dorthin, um mit den Bewohnerinnen und Bewohnern über ihre Probleme zu reden. Rund 300 Menschen drängten sich um den Staatschef, um ihm von der Schule zu berichten, die verfällt, oder von den Ausbildungsplätzen, die die Jugendlichen aus Bassens nicht bekommen. Mütter äußerten die Angst um ihre Kinder, vor denen der Krieg der Drogendealer nicht haltmacht.
Jugendliche Drogenverkäufer und ihre Helfer, die die Überwachung übernehmen, werden über die sozialen Netzwerke überall im Land rekrutiert. „Man arbeitet im Drogenhandel von Marseille wie in einem Sommerjob“, zitiert die Zeitung „Le Monde“einen Staatsanwalt. Schon mit zwölf oder 13 Jahren fangen die Jugendlichen an, in die kriminelle Welt der „Stup“, der Drogen, einzutauchen.
Das Drogengeschäft ist für die jungen Bewohner der vernachlässigten
Problemviertel verlockend, denn es bietet ihnen zumindest finanziell eine Perspektive, die sie sonst kaum haben. Schon 15 Tote durch Rivalitäten zwischen Drogengangs zählt die Hafenstadt seit Jahresanfang.
Die Drogenkriminalität ist in Marseille schon seit Jahrzehnten ein Problem. Immerhin werden mit dem Drogenhandel, für den es in der Stadt rund 150 Verkaufsplätze geben soll, jeden Monat zehn bis 15 Millionen Euro umgesetzt. 2016 wurde mit 26 Toten im Bandenkrieg ein trauriger Höhepunkt erreicht. Nachdem es danach einige Jahre etwas ruhiger geworden war, ist seit Mitte Juni der Konflikt der Clans wieder in vollem Gange.
Der Besuch Emmanuel Macrons, der von sieben Ministern begleitet wurde, war deshalb von hohen Erwartungen begleitet. Und der Präsident geizte nicht mit großen Ankündigungen: 1,5 Milliarden Euro sollen insgesamt für eine Art Marschallplan ausgegeben werden. 300 Polizisten sollen zusätzlich in die zweitgrößte Stadt Frankreichs entsandt werden.
Außerdem sollen die 174 Schulen renoviert werden, deren Zustand der sozialistische Bürgermeister Benoît Payan als „unwürdig“bezeichnet. Um die Problemviertel besser ans Zentrum anzubinden, sollen vier neue Straßenbahnlinien entstehen. Eine „historische Anstrengung“, wie das Präsidialamt betont. Acht Monate vor der nächsten Präsidentschaftswahl hat Macrons dreitägige Visite in seiner Lieblingsstadt schon den Charakter einer Wahlkampfveranstaltung – auch wenn der Staatschef seine Kandidatur noch nicht erklärte.
Die Einwohner der Banlieue sehen die Ankündigungen Macrons allerdings eher skeptisch. Zu viele Pläne gab es schon für ihre Stadt, zu wenig wurde tatsächlich auch umgesetzt. „Was haben die Politiker für die Problemviertel gemacht? Ist das normal, dass wir hier im Müll leben?“, zitiert die Zeitung „Le Figaro“eine Bewohnerin. Doch Macron will wiederkommen und prüfen, wie sein ehrgeiziges Projekt vorankommt. Marseille ist zu seiner Messlatte geworden.