Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Dicke Bretter für die Ampel
Europa stellt die neue Bundesregierung vor Herausforderungen mit Konfliktpotenzial
BERLIN - Paris, Brüssel, Warschau – und das gleich doppelt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) haben mit ihren ersten Reisezielen ein Ausrufezeichen hinter das Bekenntnis zu Europa gesetzt. Noch geht es vor allem um Symbolik. Aber im Koalitionsvertrag der Ampel schlummern handfeste Konflikte.
Eine neue Ostpolitik
Den ersten Härtetest erlebte Baerbock bei ihrem Besuch in Polen am Freitag. In Warschau hat man genau verfolgt, was die Koalition in Bezug auf Rechtsstaatsverfahren plant, denen sich Polen wegen seiner Justizreform ausgesetzt sieht. Die EUKommission solle „die bestehenden Rechtsstaatsinstrumente konsequenter und zeitnah“nutzen, heißt es im Koalitionsvertrag. Und: „Wir werden den Vorschlägen der EUKommission zu den Plänen des Wiederaufbaufonds zustimmen, wenn Voraussetzungen wie eine unabhängige Justiz gesichert sind.“Das heißt: Solange Polen Zweifel an seiner unabhängigen Justiz weckt, könnte Deutschland die Freigabe der Corona-Hilfsmilliarden blockieren.
Am Sonntag hat Scholz dann bei seinem Besuch in Warschau die Möglichkeit zu demonstrieren, ob und wie er die Politik der ausgestreckten Hand umsetzen will. Bei Steffen Angenendt von der Stiftung Wissenschaft und Politik stößt der neue Kurs auf Zustimmung: „Da muss die EU klare Kante zeigen.“Gleichzeitig müsse die Regierung aber einem Staat wie Polen beweisen, dass er auf die Solidarität der EU zählen könne. Es gehe um Verhandlungen mit „Respekt und Wertschätzung“, betont auch die in Polen geborene Grünen-Politikerin Agnieszka Brugger. Dieses Spannungsverhältnis muss nun die Ampel mit Leben füllen.
Unterschiedliche auf die Finanzen
Über eine Reform des Stabilitätsund Wachstumspakts der EU wird in Brüssel schon länger diskutiert, nun rücken Entscheidungen näher. Während einige EU-Mitglieder sowie SPD und Grüne mehr Beinfreiheit wollen, stemmen sich andere Staaten und auch die FDP gegen eine Aufweichung der Spielregeln. Im Koalitionsvertrag ist nun von einer
Perspektiven
„Weiterentwicklung“des Pakts die Rede, die dazu dienen soll, Wachstum und Investitionen zu sichern sowie übermäßige Verschuldung zu verhindern.
Damit ist aber der Zielkonflikt nur beschrieben und nicht gelöst. „Leider lassen die Formulierungen der Ampel viel Interpretationsspielraum“, kritisiert auch der Chef der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament, Manfred Weber. „Letztlich ist es ein Lackmustest für Christian Lindner und die FDP, ob sie für Stabilität und Solidität stehen oder sich Aufweichungsbestrebungen der SPD durchsetzen.“Von einem Formelkompromiss wollen die Grünen dagegen nichts wissen. „Ich bin sehr zuversichtlich, dass es darüber zu keiner Regierungskrise der Ampel kommen wird“, sagt die neue Wirtschafts-Staatssekretärin Franziska Brantner, die das Europa-Kapitel mitverhandelt hat.
Der Grundsatzkonflikt droht sich auch in der Haltung zu dem über 800 Milliarden Euro großen CoronaHilfsfonds zu wiederholen, der erstmals über gemeinsame Anleihen finanziert wird. Einige EU-Mitglieder, wie der enge Verbündete Frankreich, wollen daraus ein dauerhaftes Instrument einschließlich gemeinschaftlicher Schulden machen, was die FDP immer strikt abgelehnt hat. Die Frage nach der Zukunft des Fonds wird in der Koalitionsvereinbarung offen gelassen. „Zeitlich und in der Höhe begrenzt“heißt es dort. Diese Formulierung aber, so betont auch Brantner, ist nur „eine aktuelle Faktenbeschreibung“.
Wie agieren in der Außenpolitik Im Élysée-Palast wird man jene Passage genau studiert haben, in der es um die „strategische Souveränität“Europas geht, die die Ampel stärken will. Diese internationale Handlungsfähigkeit
der EU ist eines der Vorhaben, die Präsident Emmanuel Macron unter dem Schlagwort der „strategischen Autonomie“immer wieder angemahnt hat.
Baerbock bekannte sich nun zum Kern der Idee: „Wir müssen, wo immer möglich, die Kooperation als Europäerinnen und Europäer suchen, aber wo nötig auch in der Lage sein, eigenständig zu handeln.“Dabei gehe es nicht nur um militärische Fragen. Im Koalitionsvertrag werden auch Energieversorgung, Gesundheit, Rohstoffimporte und digitale Technologie genannt.
In der Außenpolitik sind der EU bislang oft die Hände gebunden, weil das Einstimmigkeitsprinzip gilt. Wenn es wie im vergangenen Jahr um Sanktionen gegen Belarus geht und sich Zypern wegen eines völlig anderen Themas querstellt, ist die EU handlungsunfähig. Die Ampel will daher statt Einstimmigkeit künftig das qualifizierte Mehrheitsprinzip in der EU-Außenpolitik.
Das allerdings, betont Cathryn Clüver Ashbrook, Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, „kann unter Umständen bedeuten, dass Deutschland in seiner eigenen Aktionsfähigkeit eingeschränkt wird“. Zum Beispiel, selbst überstimmt wird. CSU-Mann Weber bringt es auf den Punkt: Die Ampel müsse sich bekennen, „auch in der Verteidigungsfrage: Ist Deutschland bereit, Einsatzbefehle an die europäische Ebene abzugeben?“
Flucht und Migration
Die Krise an der belarussisch-polnischen Grenze hat gezeigt, dass das Migrations-Thema noch lange nicht von der europäischen Agenda verschwunden ist. Hier will sich die Ampelkoalition ins Zeug legen, um auch auf europäischer Ebene zu einer gemeinsamen Politik zu finden. Ein wichtiger Punkt ist hierbei die Beschleunigung von Asylverfahren. Das Problem daran sei, so EU-Experte Angenendt, dass beispielsweise Griechenland gar kein Interesse daran gehabt habe, die Verfahren zu beschleunigen, weil die Übernahme von Asylbewerbern durch andere EU-Staaten nicht geregelt war.
Dieses Problem will die Ampel mit einer „Koalition der Willigen“angehen, die die Aufnahme von Flüchtlingen unter sich regeln sollen. Derzeit allerdings würden die Blockaden in dieser Frage innerhalb der EU eher größer als kleiner, merkt Angenendt an.