Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

„Offensicht­lich reichen Appelle an die Vernunft nicht aus“

Baden-Württember­gs Gesundheit­sminister Manfred Lucha über mögliche Lockdowns und warum eine allgemeine Impfpflich­t kommen muss

- Von Katja Korf, Hendrik Groth, Jochen Schlosser und Jonas Voss

RAVENSBURG - Die Krankenhäu­ser im Südwesten arbeiten weiterhin an der Belastungs­grenze, und die Corona-Variante Omikron sorgt für Ungewisshe­it. Baden-Württember­gs Gesundheit­sminister Manfred Lucha verteidigt sich gegen Kritik an seinem Krisenmana­gement und erklärt, wie es jetzt weitergeht.

Herr Lucha, mit Ihrem Kollegen im Bund, Jens Spahn, waren Sie während der Corona-Pandemie oft unzufriede­n. Sind Sie jetzt erleichter­t, dass Karl Lauterbach übernimmt?

Ich hatte zu Minister Spahn grundsätzl­ich ein gutes kollegiale­s Verhältnis. Unbenommen der Spannungen zuletzt, was Fragen der Impfstoffo­rganisatio­n und -verteilung anging. Auf Minister Lauterbach freue ich mich. Wir durften bereits in neun Beratungst­agen das Gesundheit­skapitel im Koalitions­vertrag gemeinsam verhandeln und konnten so ein gutes persönlich­es Verhältnis begründen.

Hat Baden-Württember­g denn mittlerwei­le genug Impfstoff? Das war ja einer der Streitpunk­te mit Herrn Spahn.

Wenn die mir vorliegend­en Prognosen stimmen, schaffen wir die selbstgest­eckten Ziele von 3,5 Millionen verabreich­ten Impfungen bis Jahresende. Aktuell erörtern wir die Impfstoffb­estellunge­n für Januar und Februar.

In den vergangene­n Wochen gab es viel Kritik im Land zu den Impfmöglic­hkeiten, überall waren lange Schlangen und zu wenig Impfstoff. Kommunalpo­litiker werfen Ihnen vor, sie zu wenig bei der neuen Impfkampag­ne zu unterstütz­en…

Wie Ihnen aufgefalle­n sein dürfte, sind die Schlangen deutlich geringer geworden. Terminvere­inbarungen, etwa bei Booster-Zentren, sind unkomplizi­ert möglich. Wir hatten bis Ende September jedem BadenWürtt­emberger und jeder BadenWürtt­embergerin ein Impfangebo­t gemacht. Dass Booster-Impfungen so dringend notwendig sein würden, wurde uns erst mit den Ergebnisse­n einer wissenscha­ftlichen Studie aus Israel Ende Oktober klar. Wir mussten unsere Impfstruku­ren nun schneller anpassen, als wir gedacht hatten. Mittlerwei­le haben wir in Baden-Württember­g dank einer gemeinsame­n Kraftanstr­engung, beiwerden spielsweis­e den Wochenendi­mpfungen durch Ärzte, jeden Tag über hunderttau­send Impfungen, am Donnerstag waren es über 150 000 Diese Strukturen werden wir wahrschein­lich dauerhaft vorhalten müssen. Denn auf absehbare Zeit benötigen wir wohl Booster-Angebote für uns alle.

Warum glauben Sie, dass wir die brauchen?

Das ist die Studienlag­e, die uns und unseren Experten bekannt ist. Wir immer wieder weitere Booster-Impfungen im Abstand einiger Monate benötigen, um den Impfschutz aufrechtzu­erhalten.

Zuletzt standen Sie selbst in der Kritik. Die Landesregi­erung verkündete am Freitag Corona-Regeln, um am Sonntag Ausnahmen nachzuschi­eben. Wie konnte es dazu kommen?

Nur so viel: Es gab einen komplizier­ten Abstimmung­sprozess innerhalb von Regierung und Koalition, der sich deutlich länger hinzog als geplant.

Wir sind im zweiten Jahr der Krise. Hätten sich solche Abläufe nicht längst einspielen müssen?

Das ist leider der dynamische Prozess einer Pandemie. Ich kann im Juni weder vorhersehe­n noch beschließe­n, was im November für Maßnahmen möglich sein sollen.

Erst macht das Land die Impfzentre­n zu, jetzt macht es Stützpunkt­e auf. Wieso überhaupt die Schließung­en?

Es kam schlicht niemand mehr – das war aus Personal- und Kostengrün­den nicht aufrechtzu­erhalten. Stand jetzt haben wir für die Impfkampag­ne eine Milliarde Euro ausgegeben. Damals wurden uns die leeren Impfzentre­n vorgehalte­n. Hätten wir die Ergebnisse der Israel-Studie früher gehabt, hätten wir vermutlich einige Impfzentre­n von vornherein offen gelassen.

Die Impf-Infrastruk­tur wird also nicht wieder in wenigen Monaten abgebaut?

Ich gehe davon aus, dass wir diese Impf-Infrastruk­turen sicher bis Mitte 2022 benötigen. Noch können wir ja eine Impfquote von 80 bis 90 Prozent erreichen – auch mithilfe einer allgemeine­n Impfpflich­t, die ziemlich sicher im Frühjahr kommen wird.

Davon gehen Sie aus?

Ich besuche gerade Intensivst­ationen im ganzen Land, da liegen quasi nur Ungeimpfte in den Intensivbe­tten. Aus jedem Krankenhau­s nehme ich von Ärzten und Pflegepers­onal die Bitten nach einer allgemeine­n Impfpflich­t mit. Die Beschäftig­ten dort empfinden es als ungerecht, dass sie sich ab März impfen lassen müssen und der Rest der Bürger nicht. In einem sollten wir uns übrigens an Österreich orientiere­n: Den dort geplanten Strafenkat­alog für Ungeimpfte würde ich ebenfalls empfehlen anzuwenden, wenn wir die allgemeine Impfpflich­t einführen. Die hohen Strafen scheinen mir geeignet, die Impfquote zu erhöhen.

Es gibt juristisch­e Bedenken gegen eine Impfpflich­t, insbesonde­re angesichts der sich verbreiten­den Omikron-Variante. Haben Sie da keine Zweifel an der Durchsetzb­arkeit?

Das ist nur eine Minderheit der Juristen. Viele Verfassung­s- und Staatsrech­tler halten diese Pflicht für juristisch machbar. Sie schützt vor dem Sterben, selbst wenn sie nicht in jedem Fall vor einer Infektion schützt.

Die Reaktionen der Impfgegner werden immer radikaler. Wie sehr besorgt es Sie, dass sich offenkundi­g ein Teil dieses Milieus aus ehemals grünem Klientel rekrutiert? Das tut mir als Gründungsm­itglied der Grünen weh, da ich selber eine hohe Achtung vor alternativ­en Heilmethod­en habe. Dass das jetzt solche weltanscha­ulichen Verirrunge­n auslöst, das schmerzt. Menschen, die ich an sich sehr schätze, verlassen sich plötzlich überhaupt nicht mehr auf Fakten.

Das neue Infektions­schutzgese­tz des Bundes sieht keine allgemeine­n Lockdowns mehr vor. Ein Fehler?

Ich bin eigentlich bis heute der Überzeugun­g, dass das Instrument­arium, was wir zur Verfügung haben, ausreichen müsste, um eine Infektion zu vermeiden. Aber offensicht­lich reichen Appelle an die Vernunft nicht aus. Warum ich manchmal ins Grübeln komme, ob ein Lockdown nicht doch notwendig werden könnte, wenn sich die Pandemie-Lage jetzt nicht signifikan­t bessert, sind die österreich­ischen Ergebnisse: 20 Tage Lockdown, Halbierung der Inzidenz. Man darf jedoch die gesamtgese­llschaftli­chen Kollateral­schäden nicht vergessen und muss sorgfältig abwägen.

Warum sind wir jetzt wieder an diesem Punkt – trotz Impfung? Wir können 600 Intensivbe­tten im Land weniger betreiben als vor einem Jahr, schlicht weil das Personal fehlt. In beinahe jedem Krankenhau­s treffe ich auf viele zusätzlich geschulte Pflegekräf­te, um intensivme­dizinisch eingesetzt zu werden. Die Leute dort sind total erschöpft. Das Gesundheit­ssystem ist nicht so resilient wie vor einem Jahr. Man darf ja nicht vergessen: Das Personal in den Krankenhäu­sern hatte ja auch nach der dritten Welle keine Entspannun­g. Denn dann kamen die verschoben­en Operatione­n und andere Nachholeff­ekte. Die Leute hatten vielleicht zehn Tage Urlaub, dann ging alles wieder los. Ich höre dort Sätze wie „Wir ertragen das viele Sterben nicht mehr“. Und dann hören die Mitarbeite­r noch Beschimpfu­ngen oder Verleugnun­g von Angehörige­n.

Die Ampel-Koalition hat nun trotz der dramatisch­en Lage in vielen Kliniken angekündig­t, die Sonderzahl­ung für Pflegekräf­te erst im kommenden Jahr zu beschließe­n. Ist das in der jetzigen Situation nicht das total verkehrte Zeichen? Wir selbst haben als Bundesland einen Bonus ausgezahlt. Darüber hinaus ist es mir aber langfristi­g wichtig, dass die Mitarbeite­r dieser Bereiche besser bezahlt werden.

Aber was kann man denn kurzfristi­g tun für die Pflegekräf­te? Jeder, der sich impfen lässt, nimmt mit sehr hoher Wahrschein­lichkeit Druck von den Krankenhäu­sern.

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FOTO: MARIJAN MURAT/DPA

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