Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
„Offensichtlich reichen Appelle an die Vernunft nicht aus“
Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manfred Lucha über mögliche Lockdowns und warum eine allgemeine Impfpflicht kommen muss
RAVENSBURG - Die Krankenhäuser im Südwesten arbeiten weiterhin an der Belastungsgrenze, und die Corona-Variante Omikron sorgt für Ungewissheit. Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manfred Lucha verteidigt sich gegen Kritik an seinem Krisenmanagement und erklärt, wie es jetzt weitergeht.
Herr Lucha, mit Ihrem Kollegen im Bund, Jens Spahn, waren Sie während der Corona-Pandemie oft unzufrieden. Sind Sie jetzt erleichtert, dass Karl Lauterbach übernimmt?
Ich hatte zu Minister Spahn grundsätzlich ein gutes kollegiales Verhältnis. Unbenommen der Spannungen zuletzt, was Fragen der Impfstofforganisation und -verteilung anging. Auf Minister Lauterbach freue ich mich. Wir durften bereits in neun Beratungstagen das Gesundheitskapitel im Koalitionsvertrag gemeinsam verhandeln und konnten so ein gutes persönliches Verhältnis begründen.
Hat Baden-Württemberg denn mittlerweile genug Impfstoff? Das war ja einer der Streitpunkte mit Herrn Spahn.
Wenn die mir vorliegenden Prognosen stimmen, schaffen wir die selbstgesteckten Ziele von 3,5 Millionen verabreichten Impfungen bis Jahresende. Aktuell erörtern wir die Impfstoffbestellungen für Januar und Februar.
In den vergangenen Wochen gab es viel Kritik im Land zu den Impfmöglichkeiten, überall waren lange Schlangen und zu wenig Impfstoff. Kommunalpolitiker werfen Ihnen vor, sie zu wenig bei der neuen Impfkampagne zu unterstützen…
Wie Ihnen aufgefallen sein dürfte, sind die Schlangen deutlich geringer geworden. Terminvereinbarungen, etwa bei Booster-Zentren, sind unkompliziert möglich. Wir hatten bis Ende September jedem BadenWürttemberger und jeder BadenWürttembergerin ein Impfangebot gemacht. Dass Booster-Impfungen so dringend notwendig sein würden, wurde uns erst mit den Ergebnissen einer wissenschaftlichen Studie aus Israel Ende Oktober klar. Wir mussten unsere Impfstrukuren nun schneller anpassen, als wir gedacht hatten. Mittlerweile haben wir in Baden-Württemberg dank einer gemeinsamen Kraftanstrengung, beiwerden spielsweise den Wochenendimpfungen durch Ärzte, jeden Tag über hunderttausend Impfungen, am Donnerstag waren es über 150 000 Diese Strukturen werden wir wahrscheinlich dauerhaft vorhalten müssen. Denn auf absehbare Zeit benötigen wir wohl Booster-Angebote für uns alle.
Warum glauben Sie, dass wir die brauchen?
Das ist die Studienlage, die uns und unseren Experten bekannt ist. Wir immer wieder weitere Booster-Impfungen im Abstand einiger Monate benötigen, um den Impfschutz aufrechtzuerhalten.
Zuletzt standen Sie selbst in der Kritik. Die Landesregierung verkündete am Freitag Corona-Regeln, um am Sonntag Ausnahmen nachzuschieben. Wie konnte es dazu kommen?
Nur so viel: Es gab einen komplizierten Abstimmungsprozess innerhalb von Regierung und Koalition, der sich deutlich länger hinzog als geplant.
Wir sind im zweiten Jahr der Krise. Hätten sich solche Abläufe nicht längst einspielen müssen?
Das ist leider der dynamische Prozess einer Pandemie. Ich kann im Juni weder vorhersehen noch beschließen, was im November für Maßnahmen möglich sein sollen.
Erst macht das Land die Impfzentren zu, jetzt macht es Stützpunkte auf. Wieso überhaupt die Schließungen?
Es kam schlicht niemand mehr – das war aus Personal- und Kostengründen nicht aufrechtzuerhalten. Stand jetzt haben wir für die Impfkampagne eine Milliarde Euro ausgegeben. Damals wurden uns die leeren Impfzentren vorgehalten. Hätten wir die Ergebnisse der Israel-Studie früher gehabt, hätten wir vermutlich einige Impfzentren von vornherein offen gelassen.
Die Impf-Infrastruktur wird also nicht wieder in wenigen Monaten abgebaut?
Ich gehe davon aus, dass wir diese Impf-Infrastrukturen sicher bis Mitte 2022 benötigen. Noch können wir ja eine Impfquote von 80 bis 90 Prozent erreichen – auch mithilfe einer allgemeinen Impfpflicht, die ziemlich sicher im Frühjahr kommen wird.
Davon gehen Sie aus?
Ich besuche gerade Intensivstationen im ganzen Land, da liegen quasi nur Ungeimpfte in den Intensivbetten. Aus jedem Krankenhaus nehme ich von Ärzten und Pflegepersonal die Bitten nach einer allgemeinen Impfpflicht mit. Die Beschäftigten dort empfinden es als ungerecht, dass sie sich ab März impfen lassen müssen und der Rest der Bürger nicht. In einem sollten wir uns übrigens an Österreich orientieren: Den dort geplanten Strafenkatalog für Ungeimpfte würde ich ebenfalls empfehlen anzuwenden, wenn wir die allgemeine Impfpflicht einführen. Die hohen Strafen scheinen mir geeignet, die Impfquote zu erhöhen.
Es gibt juristische Bedenken gegen eine Impfpflicht, insbesondere angesichts der sich verbreitenden Omikron-Variante. Haben Sie da keine Zweifel an der Durchsetzbarkeit?
Das ist nur eine Minderheit der Juristen. Viele Verfassungs- und Staatsrechtler halten diese Pflicht für juristisch machbar. Sie schützt vor dem Sterben, selbst wenn sie nicht in jedem Fall vor einer Infektion schützt.
Die Reaktionen der Impfgegner werden immer radikaler. Wie sehr besorgt es Sie, dass sich offenkundig ein Teil dieses Milieus aus ehemals grünem Klientel rekrutiert? Das tut mir als Gründungsmitglied der Grünen weh, da ich selber eine hohe Achtung vor alternativen Heilmethoden habe. Dass das jetzt solche weltanschaulichen Verirrungen auslöst, das schmerzt. Menschen, die ich an sich sehr schätze, verlassen sich plötzlich überhaupt nicht mehr auf Fakten.
Das neue Infektionsschutzgesetz des Bundes sieht keine allgemeinen Lockdowns mehr vor. Ein Fehler?
Ich bin eigentlich bis heute der Überzeugung, dass das Instrumentarium, was wir zur Verfügung haben, ausreichen müsste, um eine Infektion zu vermeiden. Aber offensichtlich reichen Appelle an die Vernunft nicht aus. Warum ich manchmal ins Grübeln komme, ob ein Lockdown nicht doch notwendig werden könnte, wenn sich die Pandemie-Lage jetzt nicht signifikant bessert, sind die österreichischen Ergebnisse: 20 Tage Lockdown, Halbierung der Inzidenz. Man darf jedoch die gesamtgesellschaftlichen Kollateralschäden nicht vergessen und muss sorgfältig abwägen.
Warum sind wir jetzt wieder an diesem Punkt – trotz Impfung? Wir können 600 Intensivbetten im Land weniger betreiben als vor einem Jahr, schlicht weil das Personal fehlt. In beinahe jedem Krankenhaus treffe ich auf viele zusätzlich geschulte Pflegekräfte, um intensivmedizinisch eingesetzt zu werden. Die Leute dort sind total erschöpft. Das Gesundheitssystem ist nicht so resilient wie vor einem Jahr. Man darf ja nicht vergessen: Das Personal in den Krankenhäusern hatte ja auch nach der dritten Welle keine Entspannung. Denn dann kamen die verschobenen Operationen und andere Nachholeffekte. Die Leute hatten vielleicht zehn Tage Urlaub, dann ging alles wieder los. Ich höre dort Sätze wie „Wir ertragen das viele Sterben nicht mehr“. Und dann hören die Mitarbeiter noch Beschimpfungen oder Verleugnung von Angehörigen.
Die Ampel-Koalition hat nun trotz der dramatischen Lage in vielen Kliniken angekündigt, die Sonderzahlung für Pflegekräfte erst im kommenden Jahr zu beschließen. Ist das in der jetzigen Situation nicht das total verkehrte Zeichen? Wir selbst haben als Bundesland einen Bonus ausgezahlt. Darüber hinaus ist es mir aber langfristig wichtig, dass die Mitarbeiter dieser Bereiche besser bezahlt werden.
Aber was kann man denn kurzfristig tun für die Pflegekräfte? Jeder, der sich impfen lässt, nimmt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Druck von den Krankenhäusern.