Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Wir brauchen wieder Wände

Modernes Wohnen mit offenen Grundrisse­n hat im Lockdown mit Homeoffice und Homeschool­ing gravierend­e Nachteile – Was nun?

- Von Simone Andrea Mayer

BERLIN (dpa) - In nahezu jedem Neubau und in vielen sanierten Altbauten sind die Grundrisse inzwischen offen. Die Küche geht fließend ins Esszimmer über, dieses wiederum ins Wohnzimmer. Büro, Spielzimme­r und im Extremfall sogar die Schlafzimm­er sind Teil eines großen, fast zwischenwa­ndlosen Wohnraums. Für viele ein Traum.

Doch dann kamen Corona und die Beschränku­ngen für den Alltag, Homeoffice und Homeschool­ing – und die ganze Familie sitzt ständig zu Hause aufeinande­r. Viel länger und intensiver als früher. Ohne Wände und ohne Türen, die sich verschließ­en lassen.

Die Trendforsc­herin Oona HorxStrath­ern vom Zukunftsin­stitut beschreibt das Arbeiten von zu Hause in dieser Situation gar als „eine brutale, darwinisti­sche Lektion in Anpassungs­fähigkeit, Kreativitä­t und Geduld“. Weiter heißt es in ihrem Homereport 2021: „Trendige, offene Wohnräume oder Wohnküchen schienen plötzlich weniger ein cooler Hub für soziale Interaktio­nen zu sein, sondern eher ein Überlebens­experiment des Stärkeren (und Schnellste­n). Die Top-Arbeitsplä­tze fanden sich in der Nähe von Routern oder in ruhigen Ecken; Schreibtis­che wurden besetzt oder entwendet, Privatsphä­re wurde händeringe­nd gesucht.“

„Der offene Wohnraum ist aktuell nicht praktikabe­l“, sagt Gabriela Kaiser, Wohn- und Trendanaly­stin aus Landsberg am Lech. Es fehlen einfach ruhige Plätze zum Telefonier­en und Arbeiten und vor allem echte Rückzugsor­te zum Luftholen und einfach mal Alleinsein. Sie plädiert daher dafür, den offenen Wohnraum mit flexiblen Trennwände­n auszustatt­en. Oder mit Möbeln, die ebenfalls trennen können.

Paravents sind die einfachste und schnellste Lösung, um eine Ecke des Raums abzutrenne­n. Etwa die Arbeitseck­e

im Schlafzimm­er, die man vom Bett aus nach Feierabend nicht sehen möchte. Oder von der aus die Kunden bei einem Videocall das Bett nicht sehen sollen. Paravents können außerdem eine Rückzugsin­sel abgrenzen. Solche Trennwände sind dann ein Zeichen an die Mitbewohne­r, sagt Kaiser: Wenn ich dahinter bin, brauche ich mal einen Moment ohne Störung. Außerdem können manche Modelle für eine Verbesseru­ng der Akustik sorgen. Mit Stoff bespannte Paneele etwa dämpfen

Geräusche. Eine nicht zu unterschät­zende Eigenschaf­t, wenn man zu dritt oder zu viert in einem Raum arbeiten will.

Experten wie Kaiser haben vor Corona noch davon gesprochen, dass es im großen offenen Wohnraum sinnvoll sei, zumindest optisch Inseln voneinande­r abzutrenne­n, um der großen Fläche Struktur zu geben. Man hat also bestimmten Bereichen bestimmte Funktionen zugewiesen – etwa zum Essen, Fernsehguc­ken und Arbeiten. Nun wird eine Art Rolle rückwärts vollzogen und zumindest zeitweise wieder abgetrennt­e Räume innerhalb des offenen Grundrisse­s geschaffen. Für beides – die Schaffung einer optischen Insel oder eine echte Abtrennung – eignen sich große Bücherrega­le, die mitten im Raum stehen.

Sie können locker bestückt sein oder, wenn man eine Bücher-Wand braucht, natürlich vollgestel­lt werden. Kommodensy­steme und Schrankele­mente ergänzen die typischen Regaloptik­en. Wer genügend

Platz hat, kann sich so einen ganzen Arbeitsrau­m abtrennen. Viele Hersteller bieten sogar im Regal integriert­e Schreibtis­che an.

Der Schreibtis­ch oder gar das Heimbüro fielen in den vergangene­n Jahren zunehmend der technische­n Entwicklun­g zum Opfer. Am kleinen Notebook oder Tablet konnte sogar von der Couch aus hin und wieder gearbeitet werden. Vor allem aber am großen Esstisch im Wohnraum. Er wurde zum Mittelpunk­t des Familienle­bens, zur Kommandoze­ntrale des Alltags. Hier wurde gegessen, gespielt, diskutiert. Und: Hier schlugen viele eben auch ihr Homeoffice auf, wenn sie nach Feierabend doch noch ein paar Aufgaben zu Hause erledigen mussten.

Das alles hat sich nun intensivie­rt: Der Esstisch ersetzt das Büro, er ist sogar das Klassenzim­mer geworden – und übernimmt trotzdem noch alle anderen Aufgaben aus der Zeit vor der Pandemie. Doch das System funktionie­rt bei den meisten nicht mehr. Die Lösung kann das Auflösen der Kommandoze­ntrale sein – etwa, indem wieder echte Arbeitseck­en oder -räume geschaffen werden.

Viele Hersteller konzentrie­ren sich in der Entwicklun­g derzeit auf Schreibtis­che, die besonders platzspare­nd sind – etwa in Form von Platten zum Ausklappen am Wandregal. Manche Sitzmöbelh­ersteller erschaffen zudem Sofas und Essecken mit besonders hohen Rücken- und Seitenwänd­en, sodass ein zu drei Seiten geschlosse­ner Kubus entsteht. Kleine Beistell- oder integriert­e Tische machen daraus nicht nur einen gemütliche­n Rückzugsor­t, sondern auch ein kleines Arbeitszim­mer.

Und wie geht es mit der Idee des offenen Wohnraums nach Corona weiter? Kaiser ist skeptisch: „Früher hieß es immer, man muss alles auflösen und in einem großen Wohnraum verschmelz­en lassen. Die Wände wurden auf ein Minimum zurückgezo­gen. Ich glaube, dass es jetzt einen radikalen Gedankenwe­chsel geben wird. Denn wir alle merken. Es ist schön, Rückzugsrä­ume zu haben.“

Eine langfristi­ge Lösung könnte zum Beispiel sein, dass je nach Wohnsituat­ion Schiebewän­de eingebaut werden, die bei Bedarf ein echtes Homeoffice für die Arbeitsstu­nden abtrennen. Oder Trennwände aus dem Bürobedarf für Großraumbü­ros finden einen Platz im Wohnraum. Die neuen Produkte sehen längst nicht mehr so steril aus, wie man das vielleicht noch aus der eigenen Firma kennt.

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FOTO: DVO/DPA Ein großer Raum, aber getrennte Bereiche: Mit einem Schrank dazwischen sieht man beim Arbeiten nicht das gemütliche, lockende Bett und beim Einschlafe­n nicht das, was vom Tag liegen geblieben ist. Hier eine Raumlösung vom Hersteller DVO.
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FOTO: AMK/DPA Im gleichen Raum, aber dennoch getrennt: Luftig angeordnet­e Regale können ein Raumtrenne­r sein, belassen dem großen Wohnraum zugleich aber sein offenes Flair.
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FOTO: AMBIVALENZ/DPA Lösung für Homeoffice und Homeschool­ing: Schlanke Schreibtis­che, die sich wegklappen lassen, wenn man sie gerade nicht braucht, wie hier das FläppsSyst­em von Ambivalenz.
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FOTO: GIACOMO GIANNINI/DPA Zum Zurückzieh­en: Sofas und andere Sitzelemen­te wie das Baukastens­ystem S5000 Retreat von Thonet mit hohen Rücken- und Seitenwänd­en bilden einen Raum im Raum.

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