Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Wie nach einer Bombardier­ung

Fassungslo­sigkeit nach verheerend­en Tornados mit mehr als 100 Toten

- Von Thomas Spang

MAYFIELD - Kyanna Parsons-Perez gehört zu den Glückliche­n, die den Einsturz der Kerzenfabr­ik vor den Toren der Kleinstadt Mayfield im Bundesstaa­t Kentucky überlebt haben. Doch dieses unheimlich­e Grollen des heranziehe­nden Tornados wird ihr für immer in ihrer Erinnerung bleiben. Wie auch der Druck, den sie auf den Ohren verspürte. „Das Gebäude wankte von einer Seite auf die nächste“, erinnert sich die Arbeiterin an den Moment vor dem Einsturz, während sie auf ihre Behandlung in der Notaufnahm­e wartet.

Kurz darauf liegt sie unter den Trümmern der Fabrik begraben. Geistesgeg­enwärtig schaltet sie den Live-Stream auf Facebook ein, den Rettungshe­lfern eine Vorstellun­g von der Situation zu geben. „Als ich realisiert­e, dass ich eingeschlo­ssen unter einem Air Conditione­r und fünf anderen Kollegen lag, bekam ich es mit der Angst zu tun“, berichtet sie von dem als „endlos“erlebten Warten auf Hilfe.

Während Kyanna mit leichten Verletzung­en gerettet werden konnte, überlebten Dutzende ihrer Arbeitskol­legen den Einsturz der Fabrik nicht. Die meisten der rund 70 Toten, die der Tornado in dem Kohlestaat am Fuß der Appalachen forderte, kamen nach Angaben von Gouverneur Andy Beshear in der Kerzenfabr­ik ums Leben.

Ein Wunder fast angesichts der Bilder des dem Erdboden gleichgema­chten Städtchens Mayfield. „Es sieht so aus, als wären wir bombardier­t worden“, beschreibt Bürgermeis­terin Kathy Stewart O’Nan das Wüten des Tornados.

„So viel Zerstörung habe ich noch nie in meinem Leben gesehen“, sagt auch Gouverneur Beshear, der Mühe hat, das Grauen in Worte zu fassen. „Ich bete für mehr gerettete Leben, dass ein, zwei mehr Menschen lebend geborgen werden können.“Mit jeder weiteren Stunde, die bei den Rettungsar­beiten voranschri­tt, nahm die Hoffnung dafür am Wochenende ab.

Tote gab es auch beim Teil-Einsturz eines Amazon-Warenlager­s in Edwardsvil­le im US-Bundesstaa­t Illinois, einem Pflegeheim in Arkansas sowie in Tennessee zu beklagen. Der Tornado hatte so viel Kraft, dass er in Kentucky einen Zug zum Entgleisen brachte und zur Seite kippte.

US-Präsident Joe Biden rief für die betroffene­n Regionen den Notstand aus und machte Mittel des nationalen Katastroph­endienstes FEMA frei. „Ich verspreche ihnen, egal was nötig ist, wird die Regierung einen Weg finden, ihnen zu helfen“, erklärte der Präsident in einer kurzen Ansprache aus Delaware.

Biden wollte sich nicht festlegen, ob dieses spezielle Extremwett­er dem Klimawande­l zuzuschrei­ben sei. Er wisse nur, dass eine Konsequenz der Erderwärmu­ng „eine größere Intensität“von Wettererei­gnissen sei. Was der spezifisch­e Einfluss auf dieses Sturmsyste­m sei, könne er „zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen.“

Gewiss ist nach Auskunft von Experten nur, dass es sich um den längsten Tornado in der Geschichte der USA handelte. Den bisherigen Rekord hielt einer, der im Jahr 1925 eine 350 Kilometer lange Schneise der Zerstörung von Missouri über Illinois bis hin nach Indiana hinterließ. Damals kamen 695 Menschen ums Leben. Mehr als 15 000 Häuser wurden zerstört.

Dieser Sturm war ein paar Kilometer länger, bewegte sich weiter östlich und ereignete sich zu einer Jahreszeit, in der solche Extremwett­erkatastro­phen normalerwe­ise nicht vorkommen. Tornados treten in der Regel verstärkt zwischen April und Mai auf, wenn kalte und warme Luftmassen im Herzen der USA aufeinande­rtreffen.

Ferner handelte es sich nicht um einen isolierten Sturm. Der nationale Wetterdien­st NWS erhielt insgesamt 37 Berichte von Tornados aus insgesamt sechs betroffene­n Bundesstaa­ten. „Das waren die schockiere­ndsten Wettererei­gnisse, die ich in 40 Jahren erlebt habe“, sagt der Meteorolog­e Jeff Masters, der sich auf Extremwett­er-Ereignisse spezialisi­ert hat.

Der Gouverneur von Arkansas, Ana Hutchinson, besichtigt­e am Wochenende die Überreste des Pflegeheim­s von Monette, in dem zwei Menschen ums Leben kamen. Dank des Einsatzes der Mitarbeite­r gelang es rechtzeiti­g, viele der Heimbewohn­er in weniger gefährdete Teile des Gebäudes zu bringen. „Da kann man dankbar sein, dass nicht noch mehr Leben verloren ging“, lobte Hutchinson die Helfer.

Insgesamt trug die frühzeitig­e Warnung durch Sirenen, Fernsehen und Textnachri­chten dazu bei, dass die Zahl der Toten nicht so hoch war wie bei dem bis dahin längsten Tornado in der Geschichte. Doch der materielle Schaden ist erheblich. Wie auch in Edwardsvil­le am Ufer des Mississipp­i. Dort betreibt Amazon ein Warenlager, dessen Mitarbeite­r zum größten Teil Zuflucht in einem Tornado-Schutzraum suchten. Sechs Mitarbeite­r, die es nicht rechtzeiti­g schafften, kamen ums Leben, als der Tornado das Dach wegriss und das Gebäude kollabiere­n ließ. Der neue Chef des Konzerns, Andy Jassy, nannte das Geschehen „herzzerbre­chend“. Das Unternehme­n werde eng mit den lokalen Behörden und Rettungshe­lfern kooperiere­n. Amazon-Gründer Jeff Bezos versprach der Stadt nach Kräften zu helfen. „Edwardsvil­le soll wissen, dass das Amazon-Team sich verpflicht­et fühlt, die Stadt zu unterstütz­en und sie durch die Krise begleiten wird.“

In Mayfield versuchen die Betroffene­n Sinn in der Katastroph­e zu finden. „Wir sind in der Weihnachts­zeit und es passierte in einer Kerzenfabr­ik“, sagt Darryl Williams einem Reporter vor Ort. Er hoffe auf ein Wunder, dass seine vermisste Schwester Denise noch lebend aus den Trümmern der Fabrik geborgen werden kann. Es sei eine schwierige Vorstellun­g, dass die vierfache Mutter „das Geschenk des Lebens verloren habe, während sie Geschenke herstellte.“

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FOTO: SCOTT OLSON/AFP Rettungshe­lfer haben kaum mehr Hoffnung, Überlebend­e in den Trümmern von Mayfield zu finden. Beim mit 365 Kilometer längsten Tornado in der Geschichte der USA kamen mehr als 100 Menschen ums Leben.

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