Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Wie nach einer Bombardierung
Fassungslosigkeit nach verheerenden Tornados mit mehr als 100 Toten
MAYFIELD - Kyanna Parsons-Perez gehört zu den Glücklichen, die den Einsturz der Kerzenfabrik vor den Toren der Kleinstadt Mayfield im Bundesstaat Kentucky überlebt haben. Doch dieses unheimliche Grollen des heranziehenden Tornados wird ihr für immer in ihrer Erinnerung bleiben. Wie auch der Druck, den sie auf den Ohren verspürte. „Das Gebäude wankte von einer Seite auf die nächste“, erinnert sich die Arbeiterin an den Moment vor dem Einsturz, während sie auf ihre Behandlung in der Notaufnahme wartet.
Kurz darauf liegt sie unter den Trümmern der Fabrik begraben. Geistesgegenwärtig schaltet sie den Live-Stream auf Facebook ein, den Rettungshelfern eine Vorstellung von der Situation zu geben. „Als ich realisierte, dass ich eingeschlossen unter einem Air Conditioner und fünf anderen Kollegen lag, bekam ich es mit der Angst zu tun“, berichtet sie von dem als „endlos“erlebten Warten auf Hilfe.
Während Kyanna mit leichten Verletzungen gerettet werden konnte, überlebten Dutzende ihrer Arbeitskollegen den Einsturz der Fabrik nicht. Die meisten der rund 70 Toten, die der Tornado in dem Kohlestaat am Fuß der Appalachen forderte, kamen nach Angaben von Gouverneur Andy Beshear in der Kerzenfabrik ums Leben.
Ein Wunder fast angesichts der Bilder des dem Erdboden gleichgemachten Städtchens Mayfield. „Es sieht so aus, als wären wir bombardiert worden“, beschreibt Bürgermeisterin Kathy Stewart O’Nan das Wüten des Tornados.
„So viel Zerstörung habe ich noch nie in meinem Leben gesehen“, sagt auch Gouverneur Beshear, der Mühe hat, das Grauen in Worte zu fassen. „Ich bete für mehr gerettete Leben, dass ein, zwei mehr Menschen lebend geborgen werden können.“Mit jeder weiteren Stunde, die bei den Rettungsarbeiten voranschritt, nahm die Hoffnung dafür am Wochenende ab.
Tote gab es auch beim Teil-Einsturz eines Amazon-Warenlagers in Edwardsville im US-Bundesstaat Illinois, einem Pflegeheim in Arkansas sowie in Tennessee zu beklagen. Der Tornado hatte so viel Kraft, dass er in Kentucky einen Zug zum Entgleisen brachte und zur Seite kippte.
US-Präsident Joe Biden rief für die betroffenen Regionen den Notstand aus und machte Mittel des nationalen Katastrophendienstes FEMA frei. „Ich verspreche ihnen, egal was nötig ist, wird die Regierung einen Weg finden, ihnen zu helfen“, erklärte der Präsident in einer kurzen Ansprache aus Delaware.
Biden wollte sich nicht festlegen, ob dieses spezielle Extremwetter dem Klimawandel zuzuschreiben sei. Er wisse nur, dass eine Konsequenz der Erderwärmung „eine größere Intensität“von Wetterereignissen sei. Was der spezifische Einfluss auf dieses Sturmsystem sei, könne er „zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen.“
Gewiss ist nach Auskunft von Experten nur, dass es sich um den längsten Tornado in der Geschichte der USA handelte. Den bisherigen Rekord hielt einer, der im Jahr 1925 eine 350 Kilometer lange Schneise der Zerstörung von Missouri über Illinois bis hin nach Indiana hinterließ. Damals kamen 695 Menschen ums Leben. Mehr als 15 000 Häuser wurden zerstört.
Dieser Sturm war ein paar Kilometer länger, bewegte sich weiter östlich und ereignete sich zu einer Jahreszeit, in der solche Extremwetterkatastrophen normalerweise nicht vorkommen. Tornados treten in der Regel verstärkt zwischen April und Mai auf, wenn kalte und warme Luftmassen im Herzen der USA aufeinandertreffen.
Ferner handelte es sich nicht um einen isolierten Sturm. Der nationale Wetterdienst NWS erhielt insgesamt 37 Berichte von Tornados aus insgesamt sechs betroffenen Bundesstaaten. „Das waren die schockierendsten Wetterereignisse, die ich in 40 Jahren erlebt habe“, sagt der Meteorologe Jeff Masters, der sich auf Extremwetter-Ereignisse spezialisiert hat.
Der Gouverneur von Arkansas, Ana Hutchinson, besichtigte am Wochenende die Überreste des Pflegeheims von Monette, in dem zwei Menschen ums Leben kamen. Dank des Einsatzes der Mitarbeiter gelang es rechtzeitig, viele der Heimbewohner in weniger gefährdete Teile des Gebäudes zu bringen. „Da kann man dankbar sein, dass nicht noch mehr Leben verloren ging“, lobte Hutchinson die Helfer.
Insgesamt trug die frühzeitige Warnung durch Sirenen, Fernsehen und Textnachrichten dazu bei, dass die Zahl der Toten nicht so hoch war wie bei dem bis dahin längsten Tornado in der Geschichte. Doch der materielle Schaden ist erheblich. Wie auch in Edwardsville am Ufer des Mississippi. Dort betreibt Amazon ein Warenlager, dessen Mitarbeiter zum größten Teil Zuflucht in einem Tornado-Schutzraum suchten. Sechs Mitarbeiter, die es nicht rechtzeitig schafften, kamen ums Leben, als der Tornado das Dach wegriss und das Gebäude kollabieren ließ. Der neue Chef des Konzerns, Andy Jassy, nannte das Geschehen „herzzerbrechend“. Das Unternehmen werde eng mit den lokalen Behörden und Rettungshelfern kooperieren. Amazon-Gründer Jeff Bezos versprach der Stadt nach Kräften zu helfen. „Edwardsville soll wissen, dass das Amazon-Team sich verpflichtet fühlt, die Stadt zu unterstützen und sie durch die Krise begleiten wird.“
In Mayfield versuchen die Betroffenen Sinn in der Katastrophe zu finden. „Wir sind in der Weihnachtszeit und es passierte in einer Kerzenfabrik“, sagt Darryl Williams einem Reporter vor Ort. Er hoffe auf ein Wunder, dass seine vermisste Schwester Denise noch lebend aus den Trümmern der Fabrik geborgen werden kann. Es sei eine schwierige Vorstellung, dass die vierfache Mutter „das Geschenk des Lebens verloren habe, während sie Geschenke herstellte.“