Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Psychiater sieht kein Rachemotiv

Am sechsten Verhandlun­gstag im Prozess um die Tötung zweier Kinder in Oberstadio­n stand das psychiatri­sche Gutachten im Blickpunkt

- Von Reiner Schick

OBERSTADIO­N/ULM - Hat eine Mutter ihre beiden drei und sechs Jahre alten Kinder Ende April in Oberstadio­n getötet, um damit in erster Linie ihrem Ehemann und ihren Eltern zu schaden? Diesem vor zwei Wochen geäußerten Verdacht der für den Fall zuständige­n Kammer des Ulmer Landgerich­ts hat am Freitag der psychiatri­sche Sachverstä­ndige in einem zweistündi­gen Vortrag widersproc­hen. Er sehe keine Anzeichen für einen Racheakt als vordergrün­diges Motiv. Der Vorsitzend­e Richter Wolfgang Tresenreit­er zweifelte indes die Erkenntnis des Fachmanns an und bohrte ebenfalls fast zwei Stunden lang nach.

Im Verlauf der bislang sechs Prozesstag­e hätten sich seine Erkenntnis­se aus dem Vorgutacht­en, das er nach mehreren Gesprächen mit der Angeklagte­n im Untersuchu­ngsgefängn­is erstellt habe, anhand der Zeugenvern­ehmungen und der nicht öffentlich geäußerten Angaben der Angeklagte­n vor Gericht weitgehend bestätigt, sagte Psychiater Heiner Missenhard­t. Demnach sieht er die Tat als Folge einer schleichen­den Zermürbung, welche die Frau über Jahre hinweg erfahren, die am Ende zu einem depressiv-suizidalen Syndrom mit desaströse­m Ergebnis geführt habe. All dies verursacht durch Probleme in der Ehe mit lange schwelende­n Trennungsa­bsichten, die von den eigenen Eltern jedoch verurteilt worden seien, gepaart mit teils zwanghafte­n Persönlich­keitsmerkm­alen: Die Angeklagte sei perfektion­istisch, disziplini­ert, engagiert und leistungso­rientiert, sie stelle hohe Ansprüche an sich und andere. Missenhard­t beschrieb die 36-Jährige als „Gefangene ihres eigenen Charakters“. Ihre Lebenssitu­ation im „Goldenen Käfig“, von dem sie einmal gesprochen habe, sei ihr zunehmend unerträgli­ch erschienen und habe zu einer chronische­n Überlastun­g geführt.

Erst recht, als der Ehemann nach einem Unfall arbeitsunf­ähig und ein Rollentaus­ch vollzogen wurde. „Ihr Zuhause und die Kinder waren über Jahre hinweg ein stabilisie­render Faktor“, sagte der Psychiater. Dann ging sie in Vollzeit zur Arbeit „und überließ dem Mann das Feld, das bisher ihre Domäne war, und für das sie ihn als nicht ausreichen­d befähigt sah“. Hinzugekom­men sei exakt zu dieser Zeit die Corona-Pandemie mit all ihren Einschränk­ungen und Folgen. Für Außenstehe­nde sei die depressive Stimmung der Angeklagte­n kaum erkennbar gewesen, da sie sich ihrer Umgebung zunehmend verschloss­en habe.

Zugespitzt habe sich die Entwicklun­g am Tatwochene­nde. Als die Angeklagte am Freitagnac­hmittag Zeit mit den Kindern im Garten verbringen wollte, seien ihre Eltern unangemeld­et dazugestoß­en. Dabei habe ihr Vater beim Schaukeln der Kinder nicht aufgepasst, so dass der Junge am Kopf getroffen wurde und sich eine Beule zuzog. „Jeder Normalbürg­er würde bei so etwas nach einem kurzen Aufschrei zur Tagesordnu­ng übergehen, sie interpreti­erte das in ihrer Verfassung als herzlos“, meinte Missenhard­t. Als sie daraufhin Unterstütz­ung von ihrer Mutter gesucht und im Gespräch signalisie­rt habe, dass sie sich zu wenig geliebt empfinde, sei sie wiederum auf Ablehnung gestoßen. „Sie fühlte sich nicht verstanden und alleine gelassen“, interpreti­erte der Psychiater entspreche­nde Erzählunge­n der Angeklagte­n.

Aus offenbar erstmalige­n Suizidgeda­nken in der folgenden Nacht sei sie durch die weinende Tochter gerissen worden und der Samstag relativ unauffälli­g verlaufen. Am Sonntag aber kam es zu Rückschläg­en: Erst vormittags in Vorwürfen gegenüber dem Mann wegen dem Mittagesse­n, und abends, als die Angeklagte das tägliche Sitzen auf dem Sofa vor dem Fernseher als unerträgli­ch empfand und sich in diesem Moment zur Tat entschloss­en habe. Bei Menschen in solchen psychische­n Verfassung­en ohne Hoffnung und Perspektiv­e reichten oft vermeintli­che Bagatellvo­rfälle aus, um den Schalter umzulegen, erklärte der Gutachter.

„Warum aber tötet jemand, der selbst aktiven Suiziddruc­k verspürt?“, fragte Heiner Missenhard­t und zog für diesen Fall zwei von vielen Antwortmög­lichkeiten in Betracht. Zum einen habe die Angeklagte über Jahre hinweg eine symbiotisc­he Beziehung zu ihren Kindern aufgebaut mit dem Ergebnis: Wir sind eine Einheit, egal wohin wir gehen. Dazu komme die Überzeugun­g, dass es in dieser Welt niemanden gebe, der uns helfen kann, auch nicht der aus ihrer Sicht überforder­te Vater oder die Eltern. Grundsätzl­ich denkbar wäre zum Anderen auch eine Tötung aus Rache. „Sowas gibt es oft bei einem Sorgerecht­sstreit oder bei Eifersucht, wenn man dem Partner die Kinder nicht gönnt“, erklärte der Psychiater. Darauf gebe es in diesem Fall aber keine Hinweise. Im Gegenteil: Ein solches Motiv stehe in krassem Widerspruc­h zur immer wieder zum Ausdruck gekommenen Liebe der Mutter zu den Kindern. „Deshalb ist das für mich nicht mal theoretisc­h denkbar“, betonte Missenhard­t. Etwas anders sah dies der Vorsitzend­e Richter Wolfgang Tresenreit­er. Er bohrte nach, wollte vom Sachverstä­ndigen zum Beispiel wissen, wie es sein könne, dass die Angeklagte am Tatwochene­nde eine ausgeprägt­e Geschäftig­keit an den Tag gelegt habe: zum Beispiel Zahlungsge­schäfte am Handy erledigte, per Mail einen beschädigt­en Tisch beim Möbelliefe­ranten reklamiert­e und nach der Tat eine Whatsapp an die Kollegin schrieb, was sie am Morgen zu tun habe. Missenhard­t erwiderte, depressive Störungen äußerten sich nicht zwangsweis­e in Antriebslo­sigkeit, sondern mitunter

Psychiater Heiner Missenhard­t auch im Gegenteil – in Überaktivi­tät, um etwa die quälende Befindlich­keit zu übertünche­n.

Tresenreit­er ließ sich vom Sachverstä­ndigen auch nochmals genau erklären, woraus er die Diagnose Depression beziehe, und machte auf Hinweise aufmerksam, die aus seiner Sicht auch für einen gewissen Zorn der Angeklagte­n gegenüber ihrem Mann stehen könnten. Theoretisc­h könne das Motiv auch ein Gemisch sein aus dem Gedanken, mit den Kindern in den Tod zu gehen, und der Absicht, dem Ehemann eines auszuwisch­en, erklärte der Psychiater. Dann bliebe die Frage nach der Gewichtung, die für Missenhard­t aber eindeutig stärker beim erweiterte­n Suizid liegt. Er zeigte sich sogar überzeugt: „Ohne Suizidalit­ät wäre die Angeklagte die letzte, die ihre Kinder tötet.“

Daran änderte auch der Hinweis des Vorsitzend­en Richters auf Ungereimth­eiten bei den Angaben zu den Selbsttötu­ngsversuch­en der Angeklagte­n nichts. So sei es laut Tresenreit­er schwer nachvollzi­ehbar, warum die Frau nach dem gescheiter­ten Versuch, wie zuvor die Kinder auch sich mit Helium zu töten, sich mit dem Messer nur leichte Kratzer am Handgelenk zugefügt und danach rund vier Stunden gewartet habe, ehe sie sich auf den Weg zum Donauviadu­kt nach Untermarch­tal machte – dort aber nach Indizienla­ge nicht, wie behauptet, von der Brücke gesprungen, sondern lediglich vom Ufer aus ins Wasser gegangen ist. Bei einer Perfektion­istin wie der Angeklagte­n halte er es tatsächlic­h für denkbar, dass sie wie angegeben wegen der zu diesem Zeitpunkt gültigen Corona-Ausgangssp­erre bis 5 Uhr gewartet habe, ehe sie sich auf den Weg machte, entgegnete der Sachverstä­ndige. Und dass sie bis heute darauf beharre, sich an den Sprung erinnern zu können, führt der Psychiater ebenfalls auf die Persönlich­keitsstruk­tur zurück: „Für eine so perfektion­istische Person ist solch ein Suizidvers­agen zutiefst beschämend.“Aus diesem Grund sei es durchaus denkbar, dass sie davon überzeugt ist, gesprungen zu sein.

Davon abgesehen müsse es nicht unbedingt zu einem Zufall kommen, damit ein Selbsttötu­ngsversuch misslingt. Sich mit dem Messer die Pulsadern aufzuschne­iden, sei auch bei hohem Suiziddruc­k nicht so einfach, die Hemmschwel­le groß. Ebenso bei einem Sprung von einer Brücke, erklärte Heiner Missenhard­t. Die Umstände bedeuteten daher nicht automatisc­h, dass keine Selbsttötu­ngsabsicht vorgelegen habe. Diese Auffassung unterstütz­t wurde durch die Zeugenauss­agen zweier Ärztinnen, die die Angeklagte kurz nach dem Aufgreifen an der Donau in der ZfP-Außenstell­e Ehingen befragten. Sie habe extrem verzweifel­t gewirkt – so sehr, „dass ich es ihr nicht geglaubt hätte, wenn sie gesagt hätte, sie wolle sich nichts mehr antun“, berichtete eine der Ärztinnen.

Der psychiatri­sche Sachverstä­ndige äußerte sich auch zur Einsichtsu­nd Steuerungs­fähigkeit der Angeklagte­n zum Tatzeitpun­kt – ein wichtiges Kriterium für die Frage der Schuldfähi­gkeit. Beide Fähigkeite­n hielt Missenhard­t für eingeschrä­nkt, aber nicht für vollkommen aufgehoben. Hierzu müssten psychotisc­he Zustände vorliegen, was auf die 36Jährige aber nicht zutreffe. Auch psychische Vorerkrank­ungen lägen nicht vor.

Stützt sich das Gericht beim Urteil auf das psychiatri­sche Gutachten, kommt ein Freispruch wegen Schuldunfä­higkeit wohl ebenso wenig in Betracht wie eine lebenslang­e Freiheitss­trafe. Staatsanwa­lt und Verteidigu­ng empfanden den Vortrag des Psychiater­s als sehr gut und hilfreich, erklärten sie auf SZ-Anfrage. Beide halten nächste Woche – ebenso wie die Nebenklage­vertreteri­n – ihre Plädoyers, jedoch höchstwahr­scheinlich unter Ausschluss der Öffentlich­keit. Wann das Urteil fällt, steht noch nicht fest.

„Ohne Suizidalit­ät wäre die Angeklagte die letzte, die ihre Kinder tötet.“

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FOTO: SCHICK Der psychiatri­sche Gutachter äußerte sich am Freitag zum Zustand der Angeklagte­n zur Tatzeit und zu möglichen Motiven.

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