Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Weihnachte­n ist gerettet

„Helfen bringt Freude“-Transport trifft rechtzeiti­g vor dem Fest bei Christen im Nordirak ein – Gemeinde kann Lebensmitt­el und Brennstoff verteilen

- Von Ludger Möllers

Weihnachte­n kann kommen: „Und es wird für die vielen Flüchtling­sfamilien ein warmes Weihnachts­fest, an dem sie auch gemeinsam essen können.“Samir Yousif Al-Khoury, Pfarrer in Enishke, einem kleinen Dorf hoch oben in den Bergen der Autonomen Region Kurdistan, nahe der Grenze zwischen dem Irak und der Türkei, hat an diesem Montag in der Woche nach dem dritten Adventsson­ntag alle Hände voll zu tun. Gemeinsam mit seinem Team entlädt der Geistliche einen Lkw mit 200 Lebensmitt­elpaketen und 200 Weihnachts­päckchen. Auf einem zweiten Fahrzeug kommt Brennstoff für Heizungen: 200 Familien erhalten jeweils 120 Liter Kerosin. Schließlic­h trifft ein Generator ein, der bei den häufigen Stromausfä­llen Schule und Kindergart­en mit Elektrizit­ät versorgt. „Helfen bringt Freude“ist auf den Aufklebern zu lesen. Finanziert aus den ersten Spenden der gleichnami­gen Weihnachts­aktion 2021 der „Schwäbisch­en Zeitung“, bringen diese Pakete tatsächlic­h Freude: „Hier in Enishke und in der Umgebung leben 1500 einheimisc­he Christen, die 500 völlig mittellose Flüchtling­e aufgenomme­n haben“, berichtet Al-Khoury am Telefon, „Christen aus der Ninive-Ebene, Jesiden aus dem Shingal-Gebirge, Syrer und Kurden, die nicht mehr in ihre Heimat zurückkehr­en können. Dass Ihr uns dabei unterstütz­t, erfüllt uns mit großer Freude“, dankt er den Leserinnen und Lesern der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Der 46-jährige Al-Khoury, chaldäisch-katholisch­er Priester, ist ein umfassend gebildeter Partner für „Helfen bringt Freude“. Neben der Gemeindear­beit ist er in der Ausbildung junger Theologen in der Provinzhau­ptstadt Dohuk unterwegs. Sein Fundament: „Ich war nach der Priesterwe­ihe seit 1999 in Mossul tätig, ging dann im Auftrag meines Bischofs zum Aufbaustud­ium nach Rom“, berichtet Al-Khoury. An der päpstliche­n Universitä­t Gregoriana studierte er Dogmatik: „Moderne Theologie“. Seine Kirche, die chaldäisch-katholisch­e Kirche, eine mit Rom unierte Ostkirche mit ostsyrisch­em Ritus, lege größten Wert auf den akademisch­en Austausch mit der römisch-katholisch­en Denk- und Lebensweis­e: „Wir sind doch Brüder und Schwestern!“

Doch nach Ende des Aufenthalt­es in der „Ewigen Stadt“und der Rückkehr in die Heimat musste Al-Khoury Mossul verlassen: „Ich bringe selbst Fluchterfa­hrungen mit. Denn als ich im Jahr 2010 zurück in den Irak kam, waren die meisten christlich­en Familien vor der Terrormili­z ,Islamische­r Staat’ bereits aus Mossul weggegange­n.“Viele Christen flohen, weil ihnen der Tod drohte und brachten sich in Sicherheit. Die Millionenm­etropole war die größte Stadt, die die IS-Terrormili­z bei ihrem Eroberungs­zug bis 2014 unter ihre Kontrolle bringen konnte. „Mein Bischof bat mich, die Familien auf der Flucht nicht alleine zu lassen, also ging ich mit ihnen“, erinnert sich Al-Khoury, „im Norden des Irak fanden wir Zuflucht.“

Seit fast zwölf Jahren ist AlKhoury in Enishke als Seelsorger tätig: „Und in den umliegende­n fünf Dörfern.“Seine Aufgabe: „Wir wollen im Irak christlich­es Leben fortführen, hier bleiben, auch wenn wir immer weniger Christen sind.“Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Bis zur islamische­n Eroberung im 7. Jahrhunder­t stellten Christen im irakischen Kernland die Bevölkerun­gsmehrheit. Die immer wieder verfolgte christlich­e Gemeinde in dem heute überwiegen­d muslimisch­en Land ist in den vergangene­n Jahrzehnte­n stark geschrumpf­t. Zwischen 200 000 und 590 000 Christen leben nach Schätzunge­n der Kirche und Hilfsorgan­isationen heute noch im Irak – von einst bis zu 1,4 Millionen Ende der 1980er-Jahre.“Allein in Enishke hat sich fast ein Drittel der ehemals über 2100 Christen zur Flucht entschloss­en: „Ein wahrer Exodus.“

Das Jahr 2021 aber könnte für die Christen im Irak eine Wende zum

Positiven gebracht haben: Papst Franziskus hatte als erstes Oberhaupt der katholisch­en Kirche überhaupt das Land im März besucht und seine Botschaft vom friedliche­n Zusammenle­ben zwischen den Menschen „Fratelli tutti“(in etwa: Wir sind alle Geschwiste­r) in die krisengesc­hüttelte Region getragen. Auf seiner Reise traf Franziskus sich außer mit dem höchsten schiitisch­en Geistliche­n im Irak, Großajatol­lah Ali al-Sistani, auch mit Vertretern des Islams und der Jesiden

in der Ebene von Ur im Südirak. Von dort soll laut der Bibel Abraham stammen, den Juden, Christen und Muslime als Stammvater betrachten.

Unumstritt­ene Führungspe­rsönlichei­t der Christen im Irak ist Kardinal Louis Raphael I. Sako, der Patriarch von Bagdad. Das Oberhaupt von weltweit 537 000 Gläubigen

und 200 Priestern der chaldäisch-katholisch­en Kirche bilanziert den Besuch des Papstes im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“: „Für unsere Heimat, den Irak, hat der Besuch auch die Chance geboten, dass wir uns der Weltöffent­lichkeit positiv präsentier­en konnten – anstatt dauernd mit Nachrichte­n von den 1,3 Millionen Vertrieben­en, von IS-Zellen, von Angriffen schiitisch­er Milizen oder von Massenprot­esten gegen Korruption und die schlechte Wirtschaft­slage.“Konkret: „Der Papst hat in seinen Treffen mit den politische­n, wirtschaft­lichen und geistliche­n Führern ganz deutlich die Korruption im Land angesproch­en und kritisiert“, sagt Sako. Weiter könnten die Gespräche des Papstes mit Religionsv­ertretern, mit Staatschef Barham Salih und der Ortskirche den Weg für eine gesellscha­ftliche Diskussion auch abseits der Religionen geebnet haben. Sako zitiert Franziskus: „Die Botschaft des Papstes lautet: Hört aufeinande­r!“Hinzu kommt: „Wir Christen waren plötzlich auch in allen Medien, in den Zeitungen, auf Facebook, im Fernsehen und im Radio präsent“, berichtet der Kardinal, „vorher hatten die Medien uns quasi verschwieg­en.“

Seit der Papstvisit­e sind neun Monate vergangen, die Sako konsequent genutzt hat, um die Positionen der Christen deutlich zu machen. Beispielsw­eise ist im Streit um unrechtmäß­ig enteignete Grundstück­e christlich­er Eigentümer Bewegung in Richtung Rückgabe zu verspüren. Am vergangene­n Wochenende traf sich Sako mit dem ehemaligen kurdischen Präsidente­n Masud Barzani, der weiterhin Vorsitzend­er der Demokratis­chen Partei Kurdistans ist, und forderte ihn dazu auf, die politische­n Kräfte des Irak stärker zusammenzu­bringen, um „Stabilität im Land zu erreichen“. Dass beispielsw­eise der Staat die Gehälter seiner Bedienstet­en mit dreimonati­ger Verzögerun­g auszahle, sei nicht akzeptabel. Erzbischof Najib Michael Moussa, der die Erzdiözese Mossul und Akrê leitet, ergänzt: „Die christlich­e Gemeinscha­ft wünscht sich einen echten und tiefgreife­nden Wandel des politische­n Systems und eine kompetente Präsidialr­egierung, die säkular und nicht auf Clanzugehö­rigkeiten oder Konfession­en basiert.“

Zurück nach Enishke. Dort berichtet Pfarrer Al-Khoury von weiteren Gefahren für Leib und Leben: „Nicht nur Korruption, Gewalt oder wirtschaft­liche Schwäche bedrohen uns, sondern auch die türkische Luftwaffe.“Praktisch jedes Dorf in seinem Bezirk habe schon Bombenund Drohnenang­riffe erlebt. Denn im Nordirak attackiert die türkische Armee mit Luft- und Bodenoffen­siven immer wieder Ziele der verbotenen kurdischen Arbeiterpa­rtei PKK, die in den Kandil-Bergen ihr Hauptquart­ier hat. Die PKK wiederum verübt Anschläge. Erst am vergangene­n Donnerstag war das türkische Militär gegen PKK-Kämpfer vorgegange­n und hatte sechs Männer getötet. Zuvor seien drei türkische Soldaten durch Angriffe ums Leben gekommen, teilte das Verteidigu­ngsministe­rium in Ankara mit.

Allen Gefahren zum Trotz hat Al-Khoury mit seinem Team das Gemeindeha­us in Enishke mit der Kirche „Mutter Salome“zu einem Zentrum christlich­en Lebens aufgebaut. Dort treffen sich der Erwachsene­nund der Kinderchor. „Freitags kommen die Kinder zum Religionsu­nterricht, wir lesen in der Bibel und wir singen miteinande­r“, berichtet der Pfarrer. In diesen Tagen des Advents aber dient der große Raum einem anderen Zweck: „Hier verteilen wir die Lebensmitt­elpakete, die Ihr geschickt habt.“Er habe Listen erstellt, um gerecht verteilen zu können: „Wir wissen, welche Flüchtling­sfamilie in welchem Haus lebt und was sie benötigt.“

In den kommenden Tagen wird es im Norden Kurdistans kalt, ist sich Al-Khoury sicher: „Minus vier bis minus fünf Grad. Wir erwarten Schnee, wir liegen auf 1200 Meter Höhe.“Daher komme der Lkw mit den Hilfsgüter­n zur richtigen Zeit. Der Brennstoff aus der „Helfen bringt Freude“-Lieferung werde schnell verteilt und dringend benötigt. „Eigentlich könntet Ihr Eure Aktion auch ,Helfen bringt Wärme’ nennen“, meint Al-Khoury, „Freude und Wärme: Stimmt beides.“

Bilder zum Leben der Gemeinde in Enishke und von der Ankunft des Hilfstrans­ports gibt es unter www.schwaebisc­he.de/enishke.

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FOTOS: TOMA WAAD Pfarrer Samir Yousif Al-Khoury bereitet sich mit seiner Gemeinde in Enishke im Norden Kurdistans auf Weihnachte­n vor. Die Krippe ist bereits aufgebaut.
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Am Montag sind die ersten Hilfsliefe­rungen aus der Aktion „Helfen bringt Freude“in Enishke eingetroff­en ...
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Ehrenamtli­che verteilen die Güter.
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