Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Wasser für den letzten Wildfluss
Die obere Isar ist bedroht. Dies liegt daran, dass sie ein großes Kraftwerk speist. Nun steht der Wunsch nach Naturschutz gegen den Wunsch nach Ökostrom.
KRÜN - Die Szenerie lässt träumen: Unten im Tal schlängelt sich die junge Isar einsam durch ein weites Hochgebirgstal mit vielen Geröllablagerungen und Auwald, weiter hinten steht das Wettersteinmassiv am Horizont, südlich steigen die Karwendelspitzen auf. „Wie in Kanada“, freuen sich Karen und Sven Hartmann in schwerem norddeutschen Akzent. Das ältere Urlauberpaar macht eine Radlerpause auf der schmalen Mautstraße, die das Tal ein Stück weit erschließt. „Zauberhaft“, schieben sie nach.
Oberflächlich betrachtet, stimmt der Eindruck. Etwas genauer unter die Lupe genommen, lässt sich jedoch erkennen, dass das Naturjuwel stark gegen seinen Untergang zu kämpfen hat. Wobei es nicht um irgendeinen beliebigen Ökoschatz geht, sondern um den letzten weitgehend wild fließenden Gebirgsfluss in Deutschland. Ein Umstand, den seine Freunde gerne betonen. „Die obere Isar ist ein Teil des wertvollsten alpinen Naturerbes Deutschlands“, meint etwa Manfred Sailer, Vizepräsident des Deutschen Alpenvereins, ein ums andere Mal.
Der renommierte bayerische Naturfilmer Jürgen Eichinger verkündet im Interview, ihn lasse das Tal nicht mehr los, seitdem er dort Aufnahmen fürs Fernsehen gemacht habe. Liebe auf den ersten Blick sei’s gewesen. Selbst das ansonsten eher dröge daherkommende Umweltministerium des weiß-blauen Freistaats feiert die Gegend auf örtlichen Infotafeln als „eine fast ungestörte Wildflusslandschaft“. Aus der Naturschutzszene wird ergänzt, dass sie Heimat von „mehr als 90 gefährdeten oder bedrohten Pflanzenarten und über hundert seltenen Tierarten“sei.
Die Krux für den Isar-Oberlauf ist jedoch, dass sein grün schimmerndes Wasser von höchstem Interesse für ein Kraftwerk ist – jenes zwischen Walchen- und Kochelsee, rund 18 Kilometer entfernt, zu seiner Entstehungszeit vor fast 100 Jahren als Meisterleistung deutscher Ingenieurskunst gefeiert.
Längst steht das Walchenseekraftwerk mit seinen sechs am Hang installierten, weit sichtbaren, 430 Meter langen Druckrohren sogar unter Denkmalschutz. Es ist nach wie vor eine der größten Anlagen dieser Art in Mitteleuropa. Aktuell produzierte Strommenge: 300 Millionen Kilowattstunden im Jahr. Dies ist zwar im Vergleich zu einem Kernkraftwerk fast vernachlässigbar. Aber Anhänger der Wasserkraft werden nicht müde, sie als erneuerbare Energiequelle und damit als Aktivposten der Energiewende anzupreisen.
„Hundert Prozent Ökostrom“, lobt der gegenwärtige Inhaber Uniper Kraftwerke GmbH das Ergebnis. Aber dafür wird eben das Wasser der oberen Isar abgezweigt. Seit 1924 tut dies ein Sperrwerk, dessen Beton längst grau-bräunlich geworden ist. Es steht bei der Gemeinde Krün, einem touristisch geprägten Dorf, bekannt durchs Nobelhotel Schloss Elmau und die dort abgehaltenen zwei G7-Gipfel.
Ein Kanal und unterirdische Rohrleitungen bringen das Wasser zum Walchensee, dem Speicher fürs Kraftwerk. Das, was der Isar noch verbleibt, hat bescheidenen Umfang. Es betrifft eine Strecke von 15 Kilometern bis hinab zum Sylvensteinspeichersee. Wobei es äußerst irritierend erscheint, dass die gegenwärtige Wassermenge womöglich gleichzeitig zu groß und zu klein ist, um die Flusslandschaft zumindest ansatzweise in ihrer Urform zu erhalten.
Dieser Widerspruch hat mit dem Ringen um Optionen im Naturschutz zu tun. Besucht man die ersten Kilometer der oberen Isar unterhalb des Stauwerks bei Krün, sind die Hinweise auf das einschneidende Problem überall sichtbar: zuvorderst anhand von Weidenbüschen. Zuhauf sprießen sie im Flusstal. Oberflächlich betrachtet, machen sie Kiesbänke schön grün. Wissenschaftlich analysiert ist ihre Masse aber „ein Indikator für fehlende Flussdynamik“, wie das Auenmagazin des bayerischen Auenzentrums in Neuburg an der Donau schreibt.
Der Urzustand als Ideal wäre, dass die Isar frei und breit mäandert, dass Schneeschmelze oder beträchtliche Regenfälle ihre Fließrinnen mal hierhin, mal dorthin verlagern – so wie es vor 1924 gewesen ist. Doch das ausufernde Weidenwachstum mit dem stabilen Wurzelgeflecht sorgt praktisch für immer größer werdende Inseln. Es ist genug Wasser da, dass sie sprießen können. Gleichzeitig ist zu wenig vorhanden, damit eine Strömung die Gewächse mit sich reißt und dem Fluss wie einst andere Richtungen geben könnte.
„Das Flussbett hat sich seit mindestens 1990 nicht mehr wesentlich verlagert“, heißt es im bereits zitierten Auenmagazin. Die Jahreszahl ist kein Zufall. Sie hat mit der Wassermenge zu tun, die das Walchenseekraftwerk der Isar übrig ließ. Vom Beginn der Ableitung bis 1990 war dies fast nichts. Nur bei Hochwasser durfte das begehrte Nass über das Krüner Sperrwerk schwappen. Was im Schnitt an 50 Tagen im Jahr passierte.
Die Folge: Das Flussbett blieb mangels Wasser kiesig – und bot damit ähnliche Biotopvoraussetzungen wie im Urzustand, als Fluten Geröll aus den Bergen flussabwärts trugen und für ausgedehnte Kiesbänke sorgten. Umlagerungen des Geschiebes fanden zumindest rudimentär statt. Aber ein wirklicher Fluss war die Isar nicht mehr.
Weshalb diverse Naturschutzvereine aus der Region dafür kämpften, aus dem Rinnsal wieder etwas Rechtes zu machen. 1990 kam es zu einem Übereinkommen mit dem damaligen Betreiber des Walchenseekraftwerks. Fortan sollten sommers mindestens 4,8 Kubikmeter Wasser pro Sekunde ins Flussbett schießen, winters drei Kubikmeter pro Sekunde. Fische freuten sich, Vögel fanden es gut
– ebenso die Weiden. Weil der Fluss schließlich gegen sie keine Kraft mehr für Verlagerungen seiner Arme hat, fing er an, sich einzugraben – fast so wie ein Kanal.
Was tun? „Für Ausuferungen in der Fläche“, heißt es aus dem zuständigen Wasserwirtschaftsamt Weilheim knapp, „wäre viel mehr Wasser nötig“. Eine politische Wertung will die Behörde mit der Aussage aber nicht verbunden wissen. Naturschützer möchten hingegen schon zur Sache kommen. „Es braucht auf jeden Fall mehr Wasser“, meint etwa Erich Rühmer in einem Medienstatement. Der einstige langjährige Vorsitzende des Isartalvereins will sich aber nicht festlegen, wie viel mehr dies sein sollte.
Würde Deutschland gegenwärtig wegen der Gas-Abhängigkeit von Russland und des Ukraine-Kriegs nicht auf eine veritable Energiekrise zusteuern, wäre der Zeitpunkt für eine Diskussion über den Umfang von Einleitungen am Krüner Sperrwerk sogar gut gewählt. In acht Jahren laufen nämlich die Wasserrechte für das Walchenseekraftwerk aus. Eigentümer Uniper, Vertreter der Landesund
Lokalpolitik sowie Ökogruppen haben sich bereits in Position geschoben.
Aus den Reihen der Naturschützer kommen Forderungen, der Freistaat Bayern solle das Kraftwerk übernehmen. Der aus der Region stammende grüne Landtagsabgeordnete Hans Urban forciert diesen Ansatz. Die Hoffnung dahinter: Dem Freistaat könnten größere Zugeständnisse für mehr Wasser in der oberen Isar abgerungen werden. Bloß mag die Staatsregierung nicht einsteigen. Eventuell steckt dahinter, dass sie das Walchenseekraftwerk erst 1994 privatisiert hat.
Vergangenes Jahr kokettierten die Stadtwerke München mit Interesse. Inzwischen hat jedoch Eigentümer Uniper wissen lassen: „Eine Diskussion über einen neuen Eigentümer oder Betreiber hat sich erledigt, denn es gibt keinerlei Überlegungen, uns von diesem für die Energiewende und die immer größer werdende Aufgabe der Integration volatiler Einspeisung aus Sonne und Wind so wichtigem Kraftwerk zu trennen“, sagt der für Wasserkraft zuständige Unternehmenssprecher Theodoros Reumschüssel. Ob dies das letzte Wort ist, bleibt offen. Schuld hat die Gas-Krise. Sie trifft Uniper voll. Das Unternehmen enstand 2016 aus einer Abspaltung von Eon. Mehrheitlich gehört es zum finnischen Energiekonzern Fortum. In diesem Verbund ist Uniper Deutschlands größter Gasversorger. Wegen der hohen Preise im Einkauf und der aktuellen Verträge mit niedrigen Preisen für Verbraucher droht ihm aber die Pleite. Die Geschäftsführung hat bereits staatliche Hilfe angemahnt. Wirtschaftsanalysten können sich schon eine Zerschlagung von Uniper vorstellen. Dann würden wohl auch die Karten für das Walchenseekraftwerk und das zugehörige System von Zuleitungen inklusive weiterer Kleinkraftwerke neu gemischt werden.
Wobei eine Grundkonstante bleibt: Damit sich die Stromproduktion lohnt, muss der oberen Isar genug Wasser entnommen werden. Schon das Einverständnis von 1990, mehr davon in den Fluss fließen zu lassen, hat die Energieausbeute spürbar geschmälert. 60 Millionen Kilowattstunden pro Jahr fehlen seitdem. Naheliegend verkündet UniperSprecher Reumschüssel: Weitere Reduzierungen der Wassermenge würden „die Wirtschaftlichkeit des Gesamtsystems an der oberen Isar empfindlich beeinträchtigen“.
Selbst auf Seiten der Fluss-Retter wird dies bedacht: „Die Wiederherstellung der Dynamik wie vor der Ableitung der Isar im Jahre 1924 würde so viel Restwasser benötigen, dass der wirtschaftliche Weiterbetrieb des Walchenseekraftwerkes nicht mehr möglich wäre“, sagt Karl Probst, Vorstand des Vereins „Rettet die Isar jetzt“. Er schlägt vor, wenigstens bei Hochwasser das Sperrwerk von Krün nicht mehr so schnell wie möglich wieder zu schließen. So könnte das Geröll im Fluss weiter als bisher transportiert werden und vielleicht sogar neue Mäander entstehen.
Sein Hauptaugenmerk legt Probst jedoch auf den Rissbach, dem theoretisch wichtigsten Zufluss der oberen Isar. Ihm wird ebenso am Oberlauf Wasser für eine Zuführung zum Walchensee entnommen. Auf dem Weg dorthin treibt es noch die Turbinen des kleinen Kraftwerks Niedernach an. Dies ist seit 1951 so. Abgesehen von Hochwassern bleibt der Rissbach trocken. Sein weites Bett ist eine reine Kieswüste.
Probst will dies geändert haben: „Wenigstens Restwasser soll fließen.“Bemerkenswerterweise hat er dabei nicht nur mit skeptischen Stromerzeugern zu kämpfen, sondern ebenso mit Naturschützern. Einer speziellen Fraktion der Ökowelt ist nämlich unter anderem die Schnarrschrecke aus der Familie der Feldheuschrecken ans Herz gewachsen. Sie gilt als bedroht, liebt Kiesbänke, aber keine Weidenbüsche. Wasser könnte jedoch deren Wachstum bringen – so wie es an der Isar geschehen ist. Der Bestand an Schnarrschrecken würde wohl leiden. Eine Diskussion, welche die Wiedergeburt des Rissbaches als Wildfluss blockiert.
Touristen fällt dies wohl kaum auf. Im Gegenteil, wo der Rissbach beim Weiler Vorderriss auf die Isar stößt, wirkt die Landschaft besonders grandios: zum einen durch die noch ausgedehnteren Kiesbänke und Auwälder, dazu kommen die hier schneller fließende Isar und nah herangerückte Felswände. Wildes Land. „Dafür lohnt es sich, hier Fahrrad zu fahren“, heißt es dort von älteren Urlaubern, die gerade das zu Vorderriss gehörende urige Gasthaus Post verlassen haben. Wobei sich ihre sportlichen Anstrengungen in Grenzen halten: Alle sind mit EBikes versorgt. Beim Akku-Laden hilft dann ja womöglich das Isarwasser mit.