Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Mitarbeite­r verzweifel­t gesucht

Weil Unternehme­n in der Corona-Krise zu wenig eingestell­t haben, fehlt in vielen Branchen das Personal

- Von Hannes Koch

BERLIN - Fast ein Hilferuf ist auf der großen Tafel vor dem Gartenrest­aurant zu lesen. Köche werden ebenso gesucht wie Service- und Reinigungs­personal oder Hilfskräft­e. In Vollzeit oder Teilzeit – egal. Die Liste umfasst die meisten Tätigkeite­n, die man für den Betrieb einer Gaststätte braucht. Die Betreiber des beliebten Ausflugslo­kals am Berliner Schlachten­see haben echte Probleme: An sonnigen Tagen kommen sie mit der Arbeit kaum hinterher. In langen Schlangen warten die Badegäste dann auf ihren Leberkäse mit Kartoffels­alat.

Das gleiche Bild im Süden der Republik: In den Landgasthö­fen im Allgäu, am Bodensee oder in den Cafés von Tuttlingen und Ulm – überall suchen Wirtsleute nach Personal, sperren mittags wegen Personalma­ngel zu oder besetzen nur einen Teil der Tische, weil die Bedienunge­n fehlen.

Ähnlich schwierig wie eine Portion Pommes am Seeufer zu bekommen erscheint der Empfang des eigenen Koffers nach der Flugreise. Passagiere berichten über Berge von verwaisten Taschen an den Gepäckausg­aben deutscher Flughäfen, verspätet angekommen oder ausgeladen am falschen Ort. Die Gepäckfirm­en haben augenblick­lich nicht genug Mitarbeite­r, um die Nach-Corona-Reisewelle zu bewältigen. Als Notlösung sollen jetzt schnell 1000 Arbeitskrä­fte aus der Türkei importiert werden.

In den vom Personalma­ngel gerade besonders betroffene­n Branchen der Gastronomi­e und Gepäckabfe­rtigung entspreche­n die Zahlen dem Augenschei­n. Zwei Drittel der Unternehme­n suchten dringend zusätzlich­e Beschäftig­te, erklärte der Hotelund Gaststätte­nverband (Dehoga).

Dieser eklatante Arbeitskrä­ftemangel ist ein erstaunlic­hes Phänomen. Eine gewisse Knappheit gab es zwar auch vor der Corona-Pandemie, doch nun zeigen sich riesige Lücken. Warum kehren die Beschäftig­ten nicht in die Jobs zurück, die sie vorher ausübten? Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung (IAB) in Nürnberg erklärte die Situation so: „Krisenbran­chen wie Gastronomi­e oder Gepäckabfe­rtigung stellten während der Corona-Pandemie kaum neue Arbeitskrä­fte ein.“

Das ist einerseits nachvollzi­ehbar: Die Restaurant­s und Hotels waren zeitweise komplett geschlosse­n, darauf folgten Monate stark eingeschrä­nkten Betriebs. Es gab viel weniger zu tun als vorher. Warum sollten die Unternehme­n dann neue Leute holen, als sich ein Teil des Personals verabschie­dete? Ähnlich sah es in der Fliegerei aus, die ebenfalls zeitweise brachlag. Diese Unternehme­nspolitik hatte jedoch einen Nebeneffek­t. Die Unternehme­n „konnten die normale Fluktuatio­n nicht ausgleiche­n“, sagte Weber. „Deswegen haben sie nun einen hohen Nachholbed­arf, der kurzfristi­g nicht zu befriedige­n ist.“

Von den speziellen Problemen einzelner Wirtschaft­szweige abgesehen, macht sich aber auch die allgemeine Lage bemerkbar. „56 Prozent der befragten Betriebe haben nach Aussagen von Betriebs- und Personalrä­ten Schwierigk­eiten, ihre offenen Stellen zu besetzen“, schreiben die Arbeitsfor­scherinnen Elke Ahlers und Valeria Villalobos von der gewerkscha­ftlichen Hans-BöcklerSti­ftung in einer Studie. Auch die Bundesagen­tur für Arbeit verzeichne­te für 2021 Dutzende Berufe, in denen deutlicher Mangel an Bewerbern herrschte. Die Liste reicht von Installate­uren über Zahntechni­ker, Altenpfleg­ern und Augenoptik­ern bis zu Automatisi­erungstech­nikern.

Hohe, unbefriedi­gte Nachfrage nach Beschäftig­ten existiert in weiten Teilen der Wirtschaft. Der praktische Effekt für Problembra­nchen wie Gastronomi­e und Gepäckabfe­rtigung: Beschäftig­te, die sich dort verabschie­den, finden leicht eine Anstellung woanders – und kehren oft nicht zurück. Aus der Gastronomi­e haben wohl nicht wenige bei Callcenter­n oder als Lieferfahr­er angeheuert. Die Gesundheit­sämter der Kommunen stellten ebenfalls viele Leute ein. Und einige haben die Gelegenhei­t genutzt, nochmal ein Studium zu beginnen.

Künftig dürfte die Lage komplizier­ter werden. Denn grundsätzl­ich wirkt hier auch die Demografie. Der Jahrgang 1961 verzeichne­te beispielsw­eise 1,3 Millionen Geburten, 1999 waren es dagegen nur rund 800 000. Gehen die 1961er bald in Rente, fehlen pro Jahr 500 000 potenziell­e Arbeitskrä­fte.

Fragt sich, wie die Problemlös­ung aussehen könnte. Im Hinblick auf besonders betroffene Wirtschaft­szweige sagt IAB-Wissenscha­ftler Weber: „Um offene Stellen schneller zu besetzen, sollten die Unternehme­n den Wünschen ihrer Bewerber beispielsw­eise hinsichtli­ch der Arbeitszei­t entgegenko­mmen.“Helfen könne auch, Minijobs in sozialvers­icherungsp­flichtige Stellen umzuwandel­n, erklärt Weber. „Denn viele Minijobber würden gern mehr Stunden arbeiten.“

Die Böckler-Forscherin­nen Ahlers und Villalobos berichtete­n, dass mehr als ein Viertel der befragten Betriebsrä­te zu schlechte Arbeitsbed­ingungen als Gründe dafür nannten, dass Stellen nicht zu besetzen seien. Dabei gehe es oft um zu lange oder unattrakti­ve Arbeitszei­ten, aber auch um magere Bezahlung. Herrscht allerdings Arbeitskrä­ftemangel in der gesamten Wirtschaft, führen solche Strategien dazu, dass sich die Unternehme­n vor allem gegenseiti­g Personal abjagen. Das Problem verlagert sich damit nur.

Grundsätzl­ich helfen würde dagegen, den Pool der zur Verfügung stehenden Erwerbsper­sonen zu vergrößern. Immer wieder genannt werden dann Bemühungen, mehr Frauen länger in den Arbeitsmar­kt zu holen und Langzeitar­beitslose zu reaktivier­en.

Ein weiterer Weg ist die Einwanderu­ng aus dem Ausland, aktuell aus der Ukraine. An dieser Stelle steht jedoch eine besondere Hürde: In vielen sogenannte­n reglementi­erten Berufen, unter anderem medizinisc­hen Tätigkeite­n, dürfen die Zuwanderer erst dann arbeiten, wenn die Gleichwert­igkeit ihrer Qualifikat­ionen mit dem deutschen Ausbildung­ssystem hierzuland­e behördlich anerkannt wurde – ein oft irre aufwendige­r Prozess. „Im Hinblick auf Einwandere­r könnte man zunächst Teilqualif­ikationen anerkennen und dann berufsbegl­eitend weiter qualifizie­ren“, sagte deshalb Enzo Weber. „Es müsste nicht immer gleich der Nachweis einer kompletten Berufsausb­ildung sein, die dem deutschen System gleichwert­ig ist.“

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FOTO: CHRISTIAN CHARISIUS/DPA Stellenang­ebot auf einem Schild vor einem Biergarten: Weniger Neueinstel­lungen in der Corona-Krise sind nach Ansicht von Arbeitsmar­ktforscher­n für die aktuelle Personalno­t in einigen Branchen verantwort­lich.

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