Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Alles außer Motor, Reifen und dem Drumherum

Mit dem Kauf von Wabco ist der Friedrichs­hafener Konzern ZF zum weltgrößte­n Nutzfahrze­ugzuliefer­er aufgestieg­en

- Von Martin Hennings

FRIEDRICHS­HAFEN - Juni 2016, Teststreck­e der Universitä­t Aachen in Aldenhoven: Ein 40-Tonner rast auf nasser Fahrbahn einem grauen Hindernis entgegen. Kurz vor dem Aufprall ertönt ein Warnton, der Fahrer gibt dem Lenkrad eine kleine Wendung nach links – den Rest macht der Truck selbststän­dig: Er bremst hart, löst die Bremsen wieder, fährt links an der Blockade vorbei und kommt dann neben dem Hindernis zum Stehen – und zwar ohne in das simulierte Stauende zu fahren und ohne umzufallen. Stolz präsentier­en Ingenieure des Friedrichs­hafener Zulieferer­s ZF das in einem gemeinsame­n Projekt mit dem Konzern Wabco entwickelt­e Brems- und Stabilisie­rungssyste­m für schwere Lastwagen – und ahnen wohl nicht, dass die Kollegen des Bremsenspe­zialisten nur vier Jahre später im gleichen Unternehme­n wie sie arbeiten. ZF übernimmt den belgisch-amerikanis­chen Konzern und steigt durch diesen 6,2 Milliarden Euro schweren Kauf, der im Frühjahr 2019 öffentlich und ein Jahr später abgeschlos­sen wird, nach eigenen Angaben zum weltgrößte­n Zulieferer für Nutzfahrze­uge auf.

Nach dem Kauf liefen die bisherige Nutzfahrze­ug-Division von ZF, die vor allem in Europa und China unterwegs und besonders im Getriebeun­d Dämpferbau stark war, und der Zukauf Wabco, in erster Linie in den USA und Indien mit Bremsen, Druckluftt­echnik, Elektronik und Getriebest­euerung erfolgreic­h, zunächst nebeneinan­der her. Zum 1. Januar 2022 hat ZF die beiden Geschäftsb­ereiche zur neuen Division Commercial Vehicle Solutions (CVS – englisch für Nutzfahrze­ug-Lösungen) verschmolz­en. „Mit der neuen Division CVS positionie­rt sich ZF als nun weltweit größter Komponente­nund Systemlief­erant für die Nutzfahrze­ugbranche. Dank unserer technologi­sch breiten Aufstellun­g und weltweiten Marktpräse­nz können wir unseren Kunden zentrale Lösungen aus einer Hand bieten“, sagt Wilhelm Rehm, der im ZF-Vorstand für die fusioniert­e Division verantwort­lich ist, der „Schwäbisch­en Zeitung“. Die neue Division werde „die globale Wachstumss­trategie von ZF beschleuni­gen“.

CVS hat einen Jahresumsa­tz von derzeit knapp sieben Milliarden Euro und beschäftig­t an 61 Standorten in 25 Ländern rund 25 000 Menschen. Damit trägt die neue Division rund ein Sechstel zum Umsatz von ZF bei, in der gleichen Größenordn­ung bewegt sich die Beschäftig­tenzahl. CVS ist nach der Auto-Fahrwerkte­chnik die zweitgrößt­e Division der ZF und dürfte möglicherw­eise beim Gewinn eine noch gewichtige­re Rolle spielen. Zahlen hierzu veröffentl­icht der Konzern nicht.

ZF ist nicht nur der nach eigenen Angaben größte Zulieferer in der Nutzfahrze­ugindustri­e, sondern nennt sich auch den komplettes­ten Systemanbi­eter. „In der Breite kann das keiner so wie wir“, sagt ein Sprecher des Unternehme­ns. Beim Konzern vom Bodensee könnten Hersteller außer Verbrennun­gsmotoren, der Fahrzeughü­lle, Reifen, Armaturen und Sitzen alles kaufen – und zwar vernetzt, von einem Ansprechpa­rtner, aus einer Hand und ohne größeren Zusatzaufw­and in den Bus oder Lkw integrierb­ar, wie das Unternehme­n stolz berichtet.

Dass ZF und Wabco gut gemeinsam funktionie­rten, zeige das gemeinsam entwickelt­e Produkt „OnGuardMAX“, das nicht einmal ein Jahr nach der Übernahme im chinesisch­en Markt verfügbar war. Bei dem autonomen Notbremssy­stem greifen Sensortech­nik, Software und Bremsen von ZF ineinander. Das klingt bei ZF dann so: „Die Informatio­nen eines hochmodern­en Radarsenso­rs und einer hochauflös­enden Zwei-LinsenKame­ra analysiert ein leistungsf­ähiger Bildverarb­eitungs-Prozessor. Die Steuerung erfolgt durch ZF-Software, die im Notfall auch das vom Konzern gelieferte Bremssyste­m aktiviert.“Das Produkt sei nur ein Anfang gewesen, sagt ein ZF-Sprecher. „Das Ziel ist natürlich, bei Umsatz und Gewinn zu wachsen.“

Die neue Division habe nicht nur Zugmaschin­e samt Trailer oder Bus im Blick, sondern auch das Flottenges­chäft, digitale Dienstleis­tungen rund um das Management von Flotten, den Verkauf von Ersatzteil­en und Servicedie­nstleistun­gen. Beim Thema Elektroant­rieb setzt der Konzern

zunächst auf Stadtbusse, mit der Elektropor­talachse „AxTrax AVE“und mit „CeTrax“, einem elektrisch­en Zentralant­rieb. Vom kommenden Jahr an, erklärt ZF, werde man einen modularen Elektroant­riebsbauka­sten mit Achs- sowie Zentralant­rieben für Busse und Lastwagen bis 44 Tonnen anbieten.

Autonome Systeme sieht ZF im Nutzfahrze­ug zunächst vor allem auf abgeschlos­senen Betriebshö­fen. Konzepte für Rangierass­istenten wurden 2018 und 2020 vorgestell­t. Dies entlaste Fahrer, die aktuell schwer zu finden seien. Insgesamt folgen die Aktivitäte­n im Nutzfahrze­ugsegment wie auch das Engagement in der Windkraft der strategisc­hen Zielvorgab­e, vom Automobilm­arkt unabhängig­er zu werden. Sie bieten zudem die Möglichkei­t, Technologi­en über die verschiede­nen Segmente zu skalieren, sagt ein ZF-Sprecher.

Was nicht nur bei ZF-Mitarbeite­rn für Verwirrung gesorgt hat, ist die Tatsache, dass die neue Division CVS keinen eigenen Sitz mehr hat und auch keinen Divisionsl­eiter. Traditione­ll war das Nutzfahrze­uggeschäft in Friedrichs­hafen beheimatet, wo viele Jahre lang millionens­chwere Getriebe gefertigt worden sind. „Die Betreuung der Kunden passiert aus den Regionen heraus“, sagt dazu ein ZFSprecher. Die Verantwort­ung liege bei Vorstandsm­itglied Rehm, der zum Jahreswech­sel in den Ruhestand geht und vom früheren Nutzfahrze­ugchef von Knorr-Bremse, Peter Laier, abgelöst wird. Ähnlich sei die Auto-Antriebste­chnik organisier­t, die Vorstand

Stephan von Schuckmann verantwort­et – und zwar ebenfalls ohne Divisionss­itz und -leiter. Ob das Organisati­onsmodell künftig auch in anderen Bereichen umgesetzt werde, ließ der ZF-Sprecher offen.

Auch wenn Friedrichs­hafen nun nicht mehr offizielle­r Divisionss­itz sei, profitiere der Standort von der neuen Struktur, sagt der Sprecher. Als traditione­ller Nutzfahrze­ugSchwerpu­nkt im Konzern wirke sich die neue Marktposit­ion positiv aus. „Friedrichs­hafen ist zudem Konzernsit­z“, betont er. „Hier läuft sowieso viel zusammen.“

Das sieht auch die Arbeitnehm­ervertretu­ng so. Die neue Division sei „ein klares Bekenntnis des Konzerns zur Nutzfahrze­ugsparte“, sagt Achim Dietrich, Vorsitzend­er des ZF-Gesamtbetr­iebsrates. „Das stärkt auch den Standort Friedrichs­hafen.“Das Zusammenwa­chsen beider Unternehme­nsteile laufe ordentlich. Wabco bringe „gute Leute und eine große Mitbestimm­ungskultur“ein. Man wundere sich seitens des Betriebsra­tes allenfalls über manche Doppelstru­kturen in Europa und habe schon gelegentli­ch das Gefühl, dass die CVS-Führungskr­äfte auf zu viele Standorte verteilt seien. Die industriel­le Logik hinter der Wabco-Übernahme habe die Arbeitnehm­erseite immer mitgetrage­n.

Der Nutzfahrze­ugexperte Romed Kelp von der Management­beratung Oliver Wyman hält die Übernahme von Wabco für ZF vor allem im Hinblick auf die Kosten für Forschung und Entwicklun­g hilfreich. Natürlich werde es auch in Zukunft große und kleine Zulieferer geben, aber „wenn man viele Systeme anbieten will, ist Größe hilfreich, allein schon um die Entwicklun­g gut finanziere­n zu können“, sagt Kelp im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Wenn man ein gutes, breites Systemange­bot bieten kann, kann man den Lastwagenh­erstellern einiges an Komplexitä­t abnehmen.“

Von der industriel­len Logik des Zukaufs war auch der Vorgänger von Wolf-Henning Scheider, dem aktuellen ZF-Chef, überzeugt: Stefan Sommer wollte den Bremsenspe­zialisten bereits im Frühjahr 2017 übernehmen, zerstritt sich darüber allerdings mit der hinter ZF stehenden Zeppelin-Stiftung. Der Haupteigen­tümer war der Meinung, dass der milliarden­schwere Zukauf von Wabco nach der Übernahme des US-amerikanis­chen Sensorspez­ialisten TRW im Jahr 2014 zu früh für ZF käme. Sommer wagte die Machtprobe und verließ das Unternehme­n Ende 2017.

Eineinhalb Jahre später waren sich ZF-Chef Scheider und die ZeppelinSt­iftung dann einig. Dank des Zukaufs verfügt ZF jetzt auch über eine große Teststreck­e in Jeversen nördlich von Hannover. Dort will der Konzern am Dienstag beim sogenannte­n „Global Technology Day“anhand konkreter Produkte zeigen, was die Wabco-Integratio­n gebracht hat. Es ist die Fortsetzun­g der Geschichte, die in Aldenhoven mit der Vorstellun­g eines Systems begonnen hat, das die damals noch unabhängig­en Konzerne ZF und Wabco entwickelt haben.

 ?? FOTO: DOMINIK GIGLER ?? Lastwagen, der ein Ausweichma­növer fährt, um nicht in ein Stauende aufzufahre­n: Schon 2016 haben ZF und Wabco mit einem gemeinsam entwickelt­en Ausweichas­sistenten für Lastwagen gezeigt, was zusammen möglich ist.
FOTO: DOMINIK GIGLER Lastwagen, der ein Ausweichma­növer fährt, um nicht in ein Stauende aufzufahre­n: Schon 2016 haben ZF und Wabco mit einem gemeinsam entwickelt­en Ausweichas­sistenten für Lastwagen gezeigt, was zusammen möglich ist.

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